Die Versuchung
sie, wie das Auto auf der Privatstraße in Richtung Hauptstraße fuhr. Dort war sie vor Donovan geflohen; es kam LuAnn so vor, als wäre seitdem eine Ewigkeit vergangen. Kurz dachte sie an die Autoverfolgungsjagd, mit der dieser ganze Alptraum begonnen hatte.
Dann kehrten ihre Gedanken in die Gegenwart zurück. Das Auftauchen des Mannes vorhin konnte nur bedeuten, daß das FBI die Zufahrt zur Villa bewachte. Plötzlich fiel ihr ein, daß Riggs es während seiner Gespräche mit Masters erwähnt hatte. Mit Freuden hätte LuAnn die Unterstützung eines erfahrenen FBI -Agenten in Anspruch genommen, doch er hätte sie zweifellos auf der Stelle verhaftet.
Aber die Angst vor dem Gefängnis war nicht das Ausschlaggebende. Es ging darum, daß LuAnn keinen weiteren Menschen mehr in ihre Problem hineinziehen wollte. Niemand sollte mehr um ihretwillen verletzt oder gar getötet werden. Jackson wollte sie – und nur sie. LuAnn wußte, was er von ihr erwartete: daß sie demütig zu ihm gekrochen kam, um ihre Strafe entgegenzunehmen, im Austausch für die Freiheit und das Leben ihrer Tochter. Doch Jackson würde mehr bekommen, als er wollte. Viel mehr.
Sie und Lisa würden überleben.
Jackson nicht.
LuAnn wollte zur Hintertür, als ihr etwas auffiel: Sally Beechams Auto stand vor der Villa. Für einen Moment blickte sie verwundert auf den Wagen; dann ging sie achselzuckend um das Haus nach hinten.
Das Geräusch, das LuAnn beim Telefonat mit Jackson im Hintergrund gehört hatte, hatte sie hierher geführt. Der unverkennbare Klang der alten Uhr, des Familienerbstücks, der Uhr, die ihre Mutter ihr vermacht hatte und von der LuAnn sich nie hatte trennen wollen. Und nun zeigte sich, daß diese Uhr ihr wertvollster Besitz war: Es war das unregelmäßige Ticken dieser alten Uhr gewesen, das LuAnn im Hintergrund gehört hatte, als sie mit Jackson telefonierte.
Jackson hatte sie aus ihrer Villa angerufen. Und LuAnn war überzeugt, daß Lisa sich jetzt dort befand. Und Jackson ebenfalls. LuAnn mußte die Nerven des Mannes bewundern, hierherzukommen, obwohl das FBI unten auf der Zufahrt wartete. In wenigen Minuten würde sie ihrem schlimmsten Alptraum von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen.
Sie preßte sich dicht an die Mauer und spähte durch die Scheiben der Seitentür. Waren die Lichter der Alarmanlage grün oder rot? Erleichtert atmete sie auf, als sie das freundliche Grün sah. Selbstverständlich kannte sie den Code, um die Alarmanlage zu entschärfen, doch beim Ausschalten gab die Anlage stets einen schrillen Pfeifton von sich, und der würde alles gefährden.
Ganz langsam schloß LuAnn die Tür auf. Dann wartete sie eine Minute lang und hielt die Pistole schußbereit. Sie hörte nichts; aber das war nicht weiter verwunderlich, denn inzwischen war es weit nach Mitternacht. Trotzdem – irgend etwas störte sie.
Eigentlich hätte sie sich besser fühlen müssen, weil sie sich wieder im eigenen Haus befand, aber dem war nicht so. Statt dessen waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Wenn sie sich jetzt von der vertrauten Umgebung zur Nachlässigkeit verleiten ließ und unachtsam wurde, war es sehr gut möglich, daß sie und Lisa den Sonnenaufgang nicht mehr erlebten.
LuAnn schlich den Korridor entlang. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hörte ein Gespräch. Es waren mehrere Personen. Sie erkannte keine einzige Stimme. Langsam atmete sie erleichtert aus, als die Musik eines Werbespots erklang. Irgend jemand sah fern. Aus dem Türspalt am Ende des Flures drang Licht hervor. Vorsichtig schlich LuAnn weiter bis zu dem Lichtspalt zwischen der Tür und dem Türrahmen. Sie lauschte. Dann schob sie mit der linken Hand die Tür auf; in der rechten hielt sie die Pistole. Lautlos schwang die Tür nach innen. Im Zimmer war es dunkel; nur der Bildschirm des Fernsehers leuchtete.
Plötzlich stockte LuAnn der Atem. Direkt vor ihr saß jemand mit dunklem Haar, im Nacken kurz geschnitten und auf dem Kopf zu einem Bienenkorb hochfrisiert. Sally Beecham. Sie saß in ihrem Schlafzimmer und sah fern. Aber war es wirklich Sally? Sie saß so still da, so reglos, daß LuAnn nicht sagen konnte, ob sie lebte oder nicht.
Einen Sekundenbruchteil lang: Das Bild, wie LuAnn vor zehn Jahren durch den Wohnwagen geht und Duane auf der Couch findet. Sie bewegt sich auf ihn zu, geht direkt zu ihm. Und dann dreht er sich vor ihren Augen, ganz langsam. Das viele Blut auf der Brust. Sein Gesicht, grau wie Zement. Dann sieht sie ihn
Weitere Kostenlose Bücher