Die Versuchung
würde das Waisenkind Lisa jetzt irgendwo bei Pflegeeltern leben.
Jackson schaute zu ihr hinüber. Sie litt entsetzlich. Ihr Kopf war nach vorn gesunken. Für das Mädchen war diese Sache eindeutig zuviel. Vielleicht wäre es ihr bei Pflegeeltern besser ergangen; vielleicht wäre es besser gewesen sie hätte die Mutter nie kennengelernt. Nun, diese Mutter würde Jackson jetzt aus dem Leben des Mädchens auslöschen.
Ihm lag nichts daran, auch der Tochter Schmerz zuzufügen, aber so war das Leben nun einmal. Es war ungerecht. Das hatte er LuAnn bereits an dem Tag erklärt, als sie sich zum erstenmal getroffen hatten. Wenn du etwas willst, mußt du es dir nehmen, ehe ein anderer es dir wegnimmt. Wenn man das Leben auf diesen einen Grundsatz reduzierte, bestand es aus einer langen Reihe von Sprüngen, von einem Seerosenblatt zum nächsten. Nur die Schnellen und Erfindungsreichen vermochten sich anzupassen und zu überleben. Alle anderen wurden zerquetscht, wenn geschicktere, klügere, schnellere Wesen auf dem Seerosenblatt landeten, das die Schwachen und Wertlosen so lange besetzt hatten.
Jackson stand völlig regungslos da, als wollte er seine gesamte Energie aufsparen für das, was vor ihm lag. Er starrte in die Dunkelheit. Sehr bald würde alles beginnen. Und sehr bald würde alles enden.
KAPITEL 58
Der Regen hatte endlich aufgehört. Trotzdem waren die Frühlingsschauer noch längst nicht vorüber. LuAnn hatte eine Decke über das zerbrochene Fenster des Cottage genagelt. Riggs hatte die Heizung voll aufgedreht, so daß es halbwegs gemütlich war. Die Reste der Mahlzeit standen neben dem Ausguß in der Küche.
Riggs betrachtete die Flecken auf dem Fußboden des Eßzimmers. Sein Blut. Charlie und Riggs hatten aus dem Schlafzimmer im ersten Stock Matratzen heruntergeholt und auf den Boden gelegt. Sie hatten beschlossen, die Nacht im Cottage zu verbringen; es war der geeignetste Ort. Charlie und Riggs hatten stundenlang mit LuAnn gestritten und versucht, sie von ihrem Entschluß abzubringen. Am Ende willigte sie ein, daß die beiden morgen früh das FBI anrufen sollten, ehe sie mit Jackson telefonierte. Damit hatte sie die Männer so weit beruhigt, daß sie LuAnn die erste Wache überließen. Riggs wollte sie in zwei Stunden ablösen.
Beide Männer waren erschöpft und schnarchten schon bald. LuAnn stand mit dem Rücken zum Fenster und betrachtete sie stumm. Dann blickte sie auf die Uhr. Es war nach Mitternacht. Sie vergewisserte sich, daß ihre Pistole geladen war. Dann kniete sie neben Charlie nieder und hauchte ihm einen Kuß auf die Wange. Er bewegte sich kaum.
Sie ging zu Riggs. Seine Brust hob und senkte sich unter den regelmäßigen Atemzügen. LuAnn schob ihm das Haar aus der Stirn und schaute ihn eine Zeitlang an. Sie wußte, daß ihre Chancen schlecht standen und daß sie die beiden Männer vielleicht nie wiedersehen würde. Nachdem sie Riggs auf den Mund geküßt hatte, stand sie auf und lehnte sich an die Wand. Sie atmete schwer, weil die Gefahr, der sie sich aussetzen wollte, ihr mit einem Mal schreckliche Angst einjagte.
Trotzdem kletterte sie kurz darauf durchs Fenster, um die Männer nicht durch das Quietschen der Tür zu wecken. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf, um sich gegen den Nieselregen zu schützen. Sie wollte nicht den Wagen nehmen, weil der Motor zu viel Lärm gemacht hätte; deshalb öffnete sie die Tür des Schuppens, der als Pferdestall diente. Joy stand noch da. LuAnn hatte vergessen, jemanden anzurufen, um das Tier abzuholen. Doch im Schuppen war es warm und trocken, und es gab auch ausreichend Heu und Wasser.
Rasch sattelte LuAnn die Stute und führte sie ins Freie. Dann stieg sie auf und ritt in den Wald, so leise sie konnte.
Als sie die Grenze zu ihrem Grundstück erreichte, stieg sie ab und führte Joy in den Stall unweit der Villa. Nach kurzem Zögern nahm sie das Fernglas von der Wand. Sie kroch durchs Gebüsch und bezog am Waldrand ihren Beobachtungsposten. Es war dieselbe Stelle, an der zuvor Riggs gesessen hatte. Sie suchte die Rückfront des Hauses ab.
Plötzlich blitzten Autoscheinwerfer auf. Erschrocken setzte LuAnn das Fernglas ab. Das Auto fuhr zur Garage, doch sie öffnete sich nicht. Ein Mann stieg aus und ging hinten ums Haus, als wäre er auf einem Patrouillengang. Im Licht der Scheinwerfer sah LuAnn die Buchstaben › FBI ‹ auf der Windjacke des Mannes. Dann stieg er wieder in den Wagen und fuhr davon.
LuAnn rannte zum Haus. Von dort aus beobachtete
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