Die Versuchung
auf einen Nagelkopf in der Wand. Nein, der Gedanke war einfach absurd. Sie würde kommen.
KAPITEL 2
Der scharfe Wind pfiff über die schmale unbefestigte Straße und durch den dichten Wald. Die Straße machte eine plötzliche Kehre nach Norden, um dann ebenso plötzlich in östlicher Richtung abzufallen. Hinter einer Anhöhe waren weitere Bäume zu sehen. Manche waren von Wind, Wetter oder Krankheit gekrümmt und wirkten wie schmerzgepeinigte Gestalten. Die meisten jedoch standen kerzengerade da und breiteten ihre Äste mit dichten grünen Blättern aus. Links von der Straße hätte ein aufmerksamer Betrachter eine halbkreisförmige Lichtung erblickt, die von Schlamm und frischem Frühlingsgras bedeckt war. In die natürliche Umgebung auf dieser Lichtung fügten sich überdies verrostete Motorblöcke ein, Abfallhaufen, ein kleiner Berg leergetrunkener Bierdosen, weggeworfene Möbel und jede Menge anderer Schrott. Wenn der Schnee alles bedeckte, wirkte es wie eine Ausstellung visueller Kunstobjekte. Ansonsten machten sich hier Schlangen und andere Geschöpfe breit, sobald die Minusgrade nach Norden wanderten.
Direkt in der Mitte dieser halbkreisförmigen Insel stand auf einem bröckelnden Fundament aus Hohlziegeln ein kurzer, breiter Wohnwagen. Die einzige Verbindung mit dem Rest der Welt schienen die Strom- und Telefonleitungen zu sein, die sich von den schiefen Masten an der Straße bis zu einer Seite des Wohnwagens spannten. Diese Behausung inmitten des Nirgendwo war eine ausgesprochene Beleidigung für das Auge. Die Bewohner hätten dieser Beschreibung zugestimmt: Auch auf sie traf die Bezeichnung »mitten im Nirgendwo« zu.
Im Wohnwagen betrachtete LuAnn Tyler sich in dem kleinen Spiegel, den sie auf der windschiefen Kommode aufgestellt hatte. Sie hielt das Gesicht nicht nur deshalb in einem ungewöhnlichen Winkel, weil das Möbelstück wegen eines abgebrochenen Beins schief stand, sondern auch, weil der Spiegel gesprungen war. Wie zarte Zweige zogen sich Schlangenlinien von der Mitte des Glases nach außen. Hätte LuAnn direkt in den Spiegel geschaut, hätte sie nicht eines, sondern drei Gesichter gesehen.
LuAnn lächelte nicht, als sie sich betrachtete. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals über ihr Aussehen gelächelt zu haben. Ihr Aussehen war ihr einziges Kapital – das hatte man ihr eingehämmert, solange sie zurückdenken konnte. Allerdings hätten die Zähne einiger Korrekturen bedurft. Daß sie nie eine Zahnarztpraxis betreten hatte und mit Quellwasser ohne Fluorzusatz aufgewachsen war, hatte zu diesem Mißstand beigetragen.
»Schwachkopf«, hatte ihr Vater Benny sie immer genannt. War sie wirklich ein Schwachkopf? Oder hatte sie bloß keine Gelegenheit, ihren Verstand zu benutzen? Über dieses Thema hatte LuAnn nie eingehend mit ihrem Vater gesprochen, der nun schon fünf Jahre tot war. LuAnnes Mutter Joy war vor fast drei Jahren gestorben, und nie war Joy so glücklich gewesen wie nach dem Tod ihres Mannes. Inzwischen hätte LuAnn die Meinung des Vaters über ihren Mangel an Intelligenz eigentlich längst vergessen haben müssen, doch kleine Mädchen glauben meist vorbehaltlos, was ihr Daddy ihnen sagt.
LuAnn blickte zur Uhr an der Wand. Es war der einzige Gegenstand, den sie von ihrer Mutter besaß. Eine Art Familienerbstück, da Joy Tyler diese Uhr von ihrer Mutter am Tag der Hochzeit mit Benny bekommen hatte. Sie war nichts wert. In jedem Pfandhaus hätte man sie für zehn Dollar kaufen können. Doch für LuAnn war die Uhr ein Schatz. Als kleines Mädchen hatte sie bis tief in die Nacht dem langsamen, gleichmäßigen Ticken gelauscht. Sie wußte, daß diese Uhr immer da sein würde, auch inmitten der Dunkelheit, und sie in den Schlaf begleitete, um sie am Morgen wieder zu begrüßen. Als LuAnn aufwuchs, war diese Uhr eines der wenigen Dinge in ihrem Leben gewesen, an die sie sich stets hatte klammern können. Eine Zuflucht, ein Hafen – um so mehr, als die Uhr ihrer Großmutter gehört hatte, einer Frau, die LuAnn angebetet hatte. Wenn die Uhr in ihrer Nähe war, hatte sie das Gefühl, auch die Großmutter sei ständig bei ihr. Im Laufe der Jahre hatte das Werk sich abgenützt, so daß die Uhr einzigartige Töne hervorbrachte. Sie hatte LuAnn durch mehr schlechte als gute Zeiten begleitet und den Takt dazu geschlagen. Kurz bevor Joy Tyler gestorben war, hatte sie LuAnn aufgefordert, die Uhr zu nehmen und sie gut zu bewahren. Und jetzt würde LuAnn sie für ihre Tochter
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