Die Versuchung
Teufel, ist passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte.« LuAnn packte Charlies Handgelenk mit festem Griff und stieß ein kaum hörbares Seufzen aus. »Heißt das, Sie werden mir jetzt endlich Ihren richtigen Namen verraten, Charlie?«
Kurz nach dem Start der 747 hatte leichter Regen eingesetzt. Ein Mann in schwarzem Trenchcoat und mit imprägniertem Hut bewegte sich mit Hilfe eines Gehstocks langsam durch die Straßen im Zentrum Manhattans. Der Mann schien das unfreundliche Wetter gar nicht wahrzunehmen.
Seit seiner letzten Begegnung mit LuAnn hatte sich Jacksons Äußeres drastisch verändert. Er war um mindestens vierzig Jahre gealtert. Unter den Augen hingen dicke Tränensäcke, und sein kahler, von Altersflecken übersäter Schädel unter dem Hut wies nur noch einen dünnen weißen Haarkranz am Hinterkopf auf. Die Nase war lang und runzlig, wie auch Kinn und Hals. Die langsame, gemessene Gehweise paßte zu seiner schwächlichen Gestalt. Abends verwandelte er sich häufig in einen alten Mann; wenn die Dunkelheit kam, verspürte er das Verlangen, dahinzuschrumpfen, welk und schwach zu werden, dem Alter und dem Tod näher zu sein. Er blickte zum bewölkten Himmel hinauf. Inzwischen würde die Maschine sich auf ihrer konvexen Flugroute nach Europa über Neuschottland befinden.
LuAnn war nicht allein geflogen. Charlie war bei ihr. Nachdem LuAnn die Maschine bestiegen hatte, war Jackson noch eine Zeitlang am Flugsteig geblieben und hatte beobachtet, wie Charlie an Bord gegangen war – ohne zu wissen, daß sein Brötchengeber nur wenige Schritte von ihm entfernt stand. Aber vielleicht ist es gut so, sagte sich Jackson. Vielleicht geht die Rechnung doch auf.
Er hatte Bedenken, was LuAnn betraf, schwere Bedenken. Sie hatte ihm Informationen vorenthalten, normalerweise eine unverzeihliche Sünde. Es war ihm gelungen, ernsthafte Schwierigkeiten zu verhindern, indem er Romanello ausgeschaltet hatte. Allerdings mußte er zugeben, daß ihn bei dieser Sache eine gewisse Mitschuld traf. Schließlich hatte er Romanello beauftragt, seine Kandidatin zu töten, falls diese das Angebot ablehnte. Aber er hatte auch noch nie einen Gewinner gehabt, der auf der Flucht vor der Polizei war.
Nun würde er tun, was er immer tat, wenn eine mögliche Katastrophe bevorstand: Er würde abwarten und beobachten. Wenn alles glatt ging, würde er nichts unternehmen. Doch beim geringsten Anzeichen, daß es Ärger gab, würde er augenblicklich und rücksichtslos handeln. Wahrscheinlich war es gut für LuAnn, den tüchtigen Charlie zur Seite zu haben, denn sie war anders als die anderen. Das stand fest.
Jackson schlug den Kragen hoch und schlenderte eine Seitenstraße entlang. Auch in der Dunkelheit und bei Regen machte New York City ihm keine Angst. Er war schwer bewaffnet und ein Experte auf dem Gebiet des Tötens. Er kannte unzählige Mittel und Wege, alles zu töten, was atmete. Wer sich diesen »alten Mann« als leichtes Opfer erkor, würde seinen Fehler sehr bitter bereuen. Jackson hatte keine Freude am Töten. Manchmal war es erforderlich, aber es machte ihm keinen Spaß. Für ihn war die einzige Rechtfertigung, einen Mord zu begehen, der Erwerb von Reichtum und Macht – im Idealfall beides. Ansonsten aber wußte er Besseres mit seiner Zeit anzufangen.
Noch einmal wandte Jackson das Gesicht himmelwärts. Der sanfte Regen fiel auf die Latexfalten seines »Gesichts«. Er leckte die Tropfen auf. Sie waren kühl und fühlten sich angenehm auf der Haut an. »Viel Glück euch beiden«, flüsterte er und lächelte.
Aber Gott stehe euch bei, solltet ihr mich je hintergehen.
Er dachte angestrengt nach, als er seinen Weg fortsetzte. Es war an der Zeit, die Pläne für den Gewinner des nächsten Monats zu schmieden.
ZWEITER TEIL
ZEHN JAHRE SPÄTER
KAPITEL 18
Der kleine Privatjet setzte auf der Landebahn des Flughafens Charlottesville-Albemarle auf und rollte aus. Es war fast zehn Uhr abends, und der Flughafen hatte den Betrieb bereits weitgehend eingestellt. Die Gulfstream V war die letzte Maschine, die an diesem Tag landete. Eine Limousine wartete auf dem Rollfeld. Drei Personen – ein Mann, eine Frau und ein Kind – stiegen schnell aus dem Jet und verschwanden im Wagen, der umgehend auf der Route 29 in Richtung Süden fuhr.
In der Limousine nahm die Frau ihre Sonnenbrille ab und legte einen Arm um die Schultern des Mädchens. Dann ließ LuAnn Tyler sich in die Polster sinken und atmete tief durch. Zu Hause. Endlich waren
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