Die Versuchung
sie wieder in den Vereinigten Staaten. All die Jahre des Planens waren nun abgeschlossen. Seit geraumer Zeit hatte LuAnn an kaum etwas anderes denken können.
Sie blickte auf den Mann, der ihr gegenüber saß. Er starrte vor sich hin und trommelte mit seinen dicken Fingern einen monotonen Rhythmus an die Seitenscheibe. Charlie machte nicht nur ein besorgtes Gesicht – er war besorgt. Dennoch brachte er ein aufmunterndes Lächeln zustande. In den vergangenen zehn Jahren war es ihm stets gelungen, LuAnn Mut zu machen, wenn es notwendig war.
Er legte die Hände in den Schoß und blickte sie mit schiefgelegtem Kopf an. »Hast du Angst?« fragte er.
LuAnn nickte und schaute auf die zehnjährige Lisa, die sogleich den Kopf auf den Schoß der Mutter gelegt hatte und erschöpft eingeschlafen war. Die Reise war lang gewesen.
»Und du?« fragte sie zurück.
Er zuckte mit den breiten Schultern. »Wir haben alles so gut wie möglich geplant und wissen um das Risiko. Jetzt müssen wir damit klarkommen.« Wieder lächelte er, diesmal breiter. »Uns wird schon nichts passieren.«
Auch LuAnn lächelte. Ihre Lider waren schwer. Im Laufe der letzten zehn Jahre hatten sie, Charlie und Lisa viel durchgemacht. LuAnn wäre die glücklichste Frau auf der Welt, müßte sie nie wieder an Bord eines Fliegers gehen, nie wieder Grenzkontrollen hinter sich bringen, nie wieder überlegen, in welchem Land sie war und in welcher Sprache sie sich durchschlagen mußte. Die längste Reise, die sie jetzt noch unternehmen wollte, war der Weg zum Briefkasten, um die Post zu holen, oder eine Fahrt ins nächste Einkaufszentrum. O Gott, wenn es doch nur so leicht wäre! Sie zuckte zusammen und rieb sich gedankenverloren die Schläfen.
Charlie merkte sofort, was los war. Im Laufe der Jahre hatte er ein ausgeprägtes Gespür dafür entwickelt, auch die feinsten Nuancen in den Gefühlen LuAnns zu erkennen. Er betrachtete Lisa längere Zeit, um sich zu vergewissern, daß sie fest schlief. Dann löste er zufrieden den Sicherheitsgurt, setzte sich neben LuAnn und sprach leise auf sie ein.
»Jackson hat keine Ahnung, daß wir zurückgekommen sind. Keinen blassen Schimmer.«
»Das wissen wir doch gar nicht, Charlie«, gab LuAnn flüsternd zurück. »Wir können nicht sicher sein. Mein Gott, ich weiß nicht, was mir mehr angst macht: die Polizei oder Jackson. Nein, das stimmt nicht. Ich habe mehr Angst vor Jackson. Er hat mir damals eingeschärft, niemals in die Staaten zurückzukehren. Niemals. Und jetzt bin ich wieder da. Wir alle.«
Charlie legte eine Hand auf die ihre und sagte, so ruhig er konnte: »Meinst du vielleicht, Jackson hätte uns so weit kommen lassen, wenn er es wüßte? Wir haben sehr viele Umwege gemacht. Wir haben fünfmal den Flieger gewechselt, dazwischen eine Bahnreise gemacht, sind durch vier Länder hierher gefahren – verdammt, wir sind im Zickzack durch die halbe Welt gereist, um herzukommen. Jackson hat keine Ahnung. Und selbst wenn, dürfte es ihm egal sein. Die ganze Sache ist zehn Jahre her. Das Abkommen ist nicht mehr gültig. Weshalb sollte es ihn jetzt noch interessieren?«
»Warum tut er überhaupt, was er tut? Kannst du mir das sagen? Er tut es, weil er es will.«
Charlie seufzte, knöpfte den Jackettknopf auf und lehnte sich zurück.
LuAnn blickte ihn an und streichelte seine Schulter. »Wir sind wieder zurück. Du hast recht: Wir haben diese Entscheidung getroffen, und jetzt müssen wir damit klarkommen. Und ich habe ja schließlich nicht vor, der ganzen Welt zu verkünden, daß ich zurück bin. Wir werden ein schönes, ruhiges Leben führen.«
»Und ein sehr luxuriöses. Du hast ja die Fotos gesehen.«
LuAnn nickte. »Ja. Es sieht wunderschön aus.«
»Ein altes Herrenhaus. Ungefähr tausend Quadratmeter Wohnfläche. Wird schon ziemlich lange angeboten, aber bei sechs Millionen Dollar ist das ja kein Wunder. Mit den dreieinhalb Millionen Kaufpreis haben wir ein echtes Schnäppchen gemacht, glaub mir. Aber ich mußte verdammt hart feilschen. Und dann kommt noch die Million hinzu, die wir in die Renovierung gesteckt haben. Fast vierzehn Monate; aber wir hatten ja Zeit, stimmt’s?«
»Und die Villa liegt wirklich abgeschieden genug?«
»Bestimmt. Das Grundstück ist ungefähr hundertfünfzig Hektar groß, wurde mir gesagt. Fünfzig Hektar sind freies, ›sanft gewelltes‹ Land. So stand es jedenfalls in der Broschüre. Ich bin in New York aufgewachsen und habe noch nie so viel grünes Gras gesehen.
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