Die Verwandlung - Blutsbande 1
ich mit einem Ruck das Laken von dem Körper.
Jede weitere Sekunde spielte sich vor meinen Augen in Zeitlupe ab. Millisekunde für Millisekunde. In genau dem Moment, in dem ich das Laken von dem Leichnam zog, sah ich die grellbunte Sohle eines Sportschuhs darunter hervorschauen. Ich hatte keine Chance, mir darüber Gedanken zu machen: Was darunter lag, trug Krankenhauskleidung. Es war die Nachtwache. Ihr Gesicht war schreckverzerrt.
Ich habe nicht gleich angefangen zu schreien. Entweder war ich zu geschockt oder ich hatte nicht begriffen, was hier los war. John Doe hätte anstelle des jungen Mannes auf der Bahre liegen sollen! Der Anblick ließ mich erstarren.
Offensichtlich war sein Genick gebrochen. Sein Hals war aufgerissen, als hätte ihn ein Hund angegriffen. Durch den extremen Blutverlust war seine dunkle Haut aschfahl, dennoch waren weder auf seiner Kleidung noch auf dem Tisch Blutspuren zu sehen. Seine Augen waren offen. Das heißt, das eine, das er noch hatte, war offen. Das andere fehlte.
Auf dem blank geputzten Stahltresen sah ich das Telefon stehen, aber der kurze Weg dorthin kam mir wie ein Kilometer vor. Meine Hände zitterten so schlimm, dass ich kaum in der Lage war, die Nummer für den Notfall einzutippen. Aber nachdem ich aufgelegt hatte, wurde ich nicht ruhiger. Ich war immer noch in dieser seltsamen Situation, allein in diesem furchtbaren Albtraum. Ich nahm noch einmal den Hörer ab.
Ich wählte die Nummer für das Büro des Sicherheitsdienstes, als mich etwas kurz an der Schulter berührte. Es war kaum mehr als ein Hauch, und obwohl ich es fast nicht bemerkte, fiel ich aus irgendwelchen Gründen um.
Der Sturz auf den Boden raubte mir die letzte Energie. Verwirrt und panisch versuchte ich, auf die Knie zu kommen, aber weiter kam ich auch nicht.
Im nächsten Augenblick stand ich kurz wieder aufrecht, bevor hinter mir Glasscheiben zerbrachen. Ich wurde mit solch einer Wucht an die Türen geschleudert, dass die Scheiben splitterten und das Holz zerbarst. Mein Rücken schmerzte fürchterlich. In den Schränken fielen die Regale aus ihren Halterungen, die Plastikbehälter purzelten heraus und ihr Inhalt verteilte sich über den Boden. Ich selbst fiel wieder auf die Knie und spürte unter meinen Händen ein Gemisch aus Formaldehyd und Menschenlebern. Ich war nicht in der Lage, mich irgendwie zu bewegen, weil der Boden zu glitschig war.
Jemand zog mich an den Haaren wieder nach oben. Als ich versuchte, auf die Füße zu kommen, rutschte ich aus. Der Schmerz war unerträglich. Mein Angreifer ließ nicht locker. Ich sah auf.
John Doe schaute mich an.
Sein Gesicht, das zuvor noch so entstellt war, zeigte bis auf leichte rosafarbene Narben kaum Spuren seiner Verletzungen. Seine Brust war makellos bis auf eine lange gerade Narbe, die in der Mitte verlief und offensichtlich schon älter war. Sein Kinn war nicht mehr aus den Gelenken gehoben, sondern hatte sich wie der Rest des Gesichtes in eine dämonische Visage mit einer verkrumpelten Schnauze und seltsam langem Kiefer verwandelt. An seinen langen blonden Haaren klebte Blut, aber sein Schädel war wieder intakt. Das leuchtend blaue Auge, mit dem er mich so angestarrt hatte, als er hilflos auf der Liege lag, sah mich mit einem stechenden und unbarmherzigen Blick an. In der anderen Augenhöhle, die zuvor leer gewesen war, steckte ein braunes Auge, dessen Weiß blutunterlaufen war.
Das Auge, das der Nachtwache fehlte.
John Doe bleckte die Zähne, nadelspitze Reißzähne.
„Fangzähne“, flüsterte ich geschockt. Ein Vampir.
Er lachte. Seine Gesichtsverformung ließ sein Lachen klingen, als würde es auf einem Kassettenrekorder zu langsam abgespielt.
Alles an diesem Wesen deutete darauf hin, dass es nicht tötete, um zu überleben, sondern dass es Spaß daran hatte, mit Berechnung und Wut ein Blutbad anzurichten. Es streichelte meine Wange mit einem krallenförmigen Fingernagel. Er war wie eine Katze, die mit einer Maus spielt, ein Dieb, der das gestohlene Gut bewundert.
Aber ich wollte nicht seine Trophäe sein. Mit den Händen tastete ich auf dem Boden nach einem Stück zerbrochenem Glas und stieß die Scherbe in seinen Oberschenkel. Sein Blut spritzte mir ins Gesicht. Ich spürte das Feuchte, hatte den metallenen Geschmack auf den Lippen und fing an zu würgen.
Wütend heulte er auf und zog mir seine freie Hand, die er wie eine Klaue gewölbt hatte, über den Nacken. Erst Sekunden später spürte ich einen brennenden Schmerz, aber das war
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