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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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mehr mit ihm. Wenn wir zusammen Steine einsammelten, gingen wir die Furchen auf und ab, auf und ab, immer wieder auf und ab, unser Inneres voreinander verschlossen.
    Bald nach Timmys Geburt machte sich bei mir ein Sehfehler bemerkbar. Ich sah im Augenwinkel tanzende Lichtpunkte, und die Dinge in der Ferne, wie zum Beispiel Vögel, wurden unsichtbar. Die Menschen teilten sich und wurden zwei.
    Ich versuchte meiner Mutter zu erklären, wie merkwürdig alles wurde. Sie befand sich gerade in einer Phase, in der sie die ganze Zeit mit der Hand über die Oberflächen von Gegenständen streichen mußte. Ihre Lieblingsoberfläche war das Rad ihrer Nähmaschine, und so strich sie mit ihrem langen weißen Daumen immer wieder um es herum, als hinge er daran fest. Als ich ihr erzählte, daß sich die Leute verdoppelten, legte sie mir heftig die Hand auf den Mund. »Pst!« sagte sie. »Sei still! Ich bin abergläubisch.«
    Es war dann meine Lehrerin Miss McRae in der Dorfschule, die meinen Sehfehler entdeckte. Sie sagte zu meiner Mutter: »Mary kann die Tafel nicht sehen, Mrs. Ward.« Das stimmte. Die Tafel sah für mich wie ein Wasserfall aus.
    Ich fuhr mit meiner Mutter mit dem Bus von Swaithey nach Leiston, um einen Augenspezialisten aufzusuchen. Der Bus mußte einen Zwischenstop einlegen, um ein paar Enten über die Straße zu lassen. Ich rannte zum Fahrerfenster, um die Enten anzuschauen, doch alles, was ich sah, waren fünf Kleckse, die wie Raupen dahinkrochen.
    Eine Woche später bekam ich meine Brille. Timmy lachte mich aus, als er mich so sah, und ich gab ihm eine Ohrfeige. Ich hoffte, so fest zugeschlagen zu haben, daß er auch einen Sehfehler davontragen würde. »Wie ist sie denn?« fragte mein Vater ärgerlich mit Timmy im Arm.
    »Sie ist ein Wunder«, antwortete ich.
    Miss McRae schaute aus, als bestehe sie aus Baumrinde.
    Ihr Rücken war gerade und dünn wie ein Kamm. Sie hatte eine scharfe Nase, und ihre langen Hände waren hart und sommersprossig.
    Alle Schüler, die Miss McRae zum erstenmal sahen, hatten Angst vor ihr. Sie dachten, sie würden zerkratzt werden, wenn sie ihr zu nahe kamen. Doch wenn sie sprach, verbreitete ihre Stimme mit dem schottischen Akzent Frieden im Raum, und alle waren still. Sie begann den Tag immer, indem sie etwas erzählte, was sie als Mädchen getan hatte, als wüßte sie genau, daß sie auf uns den Eindruck machte, nie ein Kind gewesen zu sein. Die ersten Worte, die ich von ihr hörte, waren: »Als kleines Mädchen wohnte ich in einem Leuchtturm.« Von da an mochte ich Miss McRae und erzählte ihr manches, was ich meinem Vater nicht erzählen wollte.
    In jenem Sommer, kurze Zeit nach dem Baby-Schönheitswettbewerb, sagte Miss McRae zu uns: »Ich möchte, daß ihr am Montag alle etwas in die Schule mitbringt. Und zwar soll es etwas sein, was euch wichtig oder kostbar ist, oder einfach etwas Hübsches, etwas, was euch gefällt. Und dann sollt ihr mir und den anderen Kindern in der Klasse erklären, warum ihr es mögt oder warum es für euch etwas Kostbares ist. Ihr könnt mitbringen, was ihr wollt. Niemand braucht Angst zu haben, sich lächerlich zu machen. Ihr müßt nur zusehen, daß ihr sagen könnt, warum ihr es ausgesucht habt.«
    Auf dem Heimweg dachte ich darüber nach, was ich wohl als ein mir kostbares Ding mitbringen könnte. Bei meiner Geburt hatte ich von meiner Mutter eine silberne Kette mit einem Medaillon aus Silber und Glas bekommen. In diesem Medaillon war ein Löckchen von Großmutter Livias Haar, und meine Mutter hatte erst kürzlich zu mir gesagt, daß ich dieses Medaillon immer in Ehren halten und, falls ich es je trug, alle zehn Minuten berühren sollte, um mich zu vergewissern, daß ich es noch am Hals hatte. Ich schaute es mir manchmal an. Ich fragte mich dann stets, was Großmutter Livia wohl am Hals gehabt hatte, als sie in das Segelflugzeugstieg. Ich glaubte, daß es etwas war, was Miss McRae gefallen würde, und hörte sie schon anerkennend sagen: »Was für ein hübsches kleines Ding, Mary.« Aber es war nicht wirklich kostbar für mich. Und wenn etwas nicht kostbar für einen ist, ist es das eben nicht, da kann man nichts machen; es wird es dann auch nicht plötzlich zwischen Freitag und Montag.
    Zu Hause sah ich mich in meinem Zimmer um. Ich dachte, ich würde vielleicht etwas Kostbares finden, an das ich nur nicht gedacht hatte. Doch da war nicht viel, nur mein Bett, das aus dem Ausverkauf eines kleinen Krankenhauses stammte, ein Tisch mit einer Lampe

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