Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
war.
    Ich hielt sie ungeschickt. Als Timmy auf die Welt kam, wollte meine Mutter mir zeigen, wie man ein Baby hält, doch es interessierte mich nicht. Ich dachte, ich muß etwas sagen, bevor mir Pearl aus den Armen gleitet.
    »Ist dieses Baby dein kostbares Ding, Mary?« fragte mich Miss McRae freundlich.
    Ich nickte.
    »Aha, meine Liebe«, sagte sie. »Kannst du dann vielleicht der Klasse erzählen, wieso?«
    In diesem Augenblick ließ Pearl den Kopf auf meine Schulter fallen, als wollte sie schlafen und schnarchen. Ihre Hand lag noch auf meiner Wange, an der sie sich festhielt. Ich sagte: »Sie heißt Pearl. Eigentlich hatte ich vor, das Medaillon mitzubringen, in dem etwas Haar von meiner Großmutter ist.«
    »So, meine Liebe?«
    »Aber...«
    »Ja?«
    »Es ist nicht kostbar.«
    »Nein?«
    »Nein. Es ist nicht kostbar.«
    »Doch Pearl ist es?«
    »Ja.«
    »Und ob du uns wohl sagen kannst, warum, Mary?«
    »Manches ist es eben.«
    »Da hast du ganz recht.«
    »Man kann es aber nicht richtig erklären. Meine Mutter kann es auch nicht. Wenn sie etwas hätte mitbringen sollen, hätte sie vielleicht ihre Nähmaschine mitgebracht.«
    Miss McRae wartete. Nach einer Weile verstand sie, daß ich nichts mehr sagen konnte, und nickte ernst. Mein Gesicht war glühend heiß. Ich befürchtete, zu explodieren und mein Inneres über mein Pult und Billy Batemans Briefmarkenalbum spritzen zu sehen. Ich fragte, ob ich mich setzen dürfe, und als Miss McRae es mir erlaubte, setzte ich mich hin und sah zu, wie das nächste Kind mit seinem kostbaren Ding nach vorne ging. Es war Judy Weaver, die gewissermaßen meine Freundin war. Sie hatte eine häßliche kleine lachsfarbene Puppe mitgebracht, die wie eine Fee angezogen war. Ich hatte diese Puppe im Bad ihrer Eltern auf dem Fensterbrett stehen sehen. Sie diente als Toilettenpapierverbrämung. Die dünnen Puppenbeine wurden in den Pappzylinder der Rolle gesteckt, und der weite Gazerock fiel diskret über das Papier.
    Nach diesem Tag der kostbaren Dinge wollte ich Judy Weaver nicht mehr zur Freundin. Ich wollte keine Freunde mehr. Überhaupt keine.
Der »Blue Yodeller«
    Die Loomis lebten schon seit vier Generationen in Swaithey. Ihr Laden, Arthur Loomis & Sohn, Hausgemachte Fleischerwaren, war im Jahre 1861 eröffnet worden. Eine verblichene Fotografie des Gründers, auf der er eine lange Schürze trug und eine Platte mit angerichtetem Wild in der Hand hielt, hing jetzt im Schaufenster über den Schweinebraten, enthäuteten Kaninchen und Schüsseln mit Kutteln. Er hatte einen vollen Schnurrbart und sah mit seinem Lächeln und seiner Leibesfülle ganz so aus, als wollte er sich für die Ewigkeit herausfüttern. Alle Söhne der nachfolgenden Generationen, die das Geschäft am Blühen hielten, hatten Arthur Loomis im Schlaf zu sich sprechen hören. Es war so, als müßte ihn jeder mit der Zeit kennenlernen. Ernie Loomis, der augenblickliche Inhaber, der zwölf Jahre nach Arthurs Tod geboren worden war, konnte seine Stimme sogar beschreiben. Er sagte, sie sei »nett und langsam« gewesen, »und nett und freundlich«.
    Hinter dem Laden war der Kühlraum und hinter diesem, von einer hohen Mauer verborgen, der Schlachthof. Die Tiere wurden mit einem Flaschenzug an den Hinterbeinen hochgezogen. Ihr Blut floß in eine Rinne und von dort durch ein Rohr in eine Abwassergrube, die unter ebender Wiese lag, auf der die Färsen im Sommer weideten.
    In einer Ecke dieser Wiese wohnte Pete, Ernie Loomis’ Bruder, in einem umgebauten Obus mit strohgedecktem Giebeldach. Zwischen Petes Wohnzimmer und seiner engen Küche war ein Schild, auf dem stand: Knopf bitte einmal drücken – Bus hält. Abgesehen von der Familie kannte kaum jemand Pete Loomis. Er arbeitete im Schlachthof oder auf der Wiese, doch nie im Laden. Er schielte auf dem linken Auge, so daß er selten jemanden gerade ansehen konnte, doch beim Schlachten richteten sich seine Augen aus, und er schnitt exakt. Er hatte weder Frau noch Kind. Eine Zeitlang war er im Süden Nordamerikas gewesen, und es gab Gerüchte über ein weit zurückliegendes Verbrechen. Die Damen Cunninghamim Textilgeschäft im Dorf, wo er seine Unterwäsche kaufte, sprachen von ihm als von einem »höchst ungewöhnlichen Mann«.
    Er war jedoch ein Segen für Ernie, der den Schlachthof nie gemocht hatte. Ernie verstand sich mehr aufs tote Fleisch. Jeder, der im östlichen Suffolk Rang und Namen hatte, kannte ihn, ebenso, wie er alle kannte. Er hatte, wie sein Ahnherr, eine

Weitere Kostenlose Bücher