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Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Die Verwandlung der Mary Ward - Roman

Titel: Die Verwandlung der Mary Ward - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Absturz endlos und eisig war. Sie legte die Hände zusammen und versuchte innerlich zur Ruhe zu kommen. »Zum Tee«, flüsterte sie, »probier ich das neue Pfannkuchenrezept aus.« Sie glaubte, lautlos zu flüstern, doch das war nicht der Fall. Estelle hatte oft Schwierigkeiten, zwischen Gedanken und laut Ausgesprochenem zu unterscheiden.
    Sonny schlug sich mit seiner abgetragenen Mütze auf den Schenkel und fing zu husten an. »Sei still, Estelle!« sagte er, noch immer hustend. »Sonst müssen wir mit dem Schweigen noch einmal von vorn beginnen.«
    Estelle legte die Hände auf den Mund und schloß die Augen. Als sein Husten nachließ, blickte Sonny auf Tim. Auf Tim, seinen Liebling. Timmy, seinen Sohn. Der Junge hatte sich auf eine Furche gesetzt und versuchte die Schnürsenkel seiner Stiefelchen aufzumachen. Sonny beobachtete, wie ereinen seiner Stiefel zusammen mit einer grauen Socke auszog, so daß sein Fuß sichtbar wurde. Sonny dachte, daß der weiche Fuß aussah, als habe er keinen Knochen. Tim steckte ihn in den Schlamm und warf den Stiefel wie ein Spielzeug von sich.
    »Tim!« zischte Mary. »Sei nicht böse!«
    »Bist du still, Mädchen!« sagte Sonny.
    »Ich höre überhaupt kein Schweigen«, ließ sich Estelle vernehmen.
    »Noch einmal von vorn!« ordnete Sonny an.
    So überlegte Mary, wie viele Minuten es wohl werden würden. Werden wir noch hier stehen, wenn es dunkel wird?
    Und dann fühlte sich Mary bei dem Gedanken, wie sie auf dem Feld warteten und der Schnee auf sie fiel, so daß sie ganz weiß wurden, auf einmal merkwürdig erregt, als würde gleich etwas mit ihr geschehen, was seit Menschengedenken noch nie mit jemandem in Suffolk oder auf der ganzen Welt geschehen war.
    Mary versuchte noch einmal für den König zu beten, doch die Worte wurden wie Papier im Wind davongetragen. Sie wischte sich mit dem Handschuh den Schnee von der Brille. Dann blickte sie auf ihre Familie, nahm sie bewußt in sich auf, erst einen, dann zwei, dannn alle drei, wie sie nun endlich still waren, wenn auch nicht so still, wie sie sein sollten, nicht so still wie die mit Federn geschmückten Männer, die am Sarg des Königs Wache hielten, nicht so still wie Rohrkolben in einem See. Und dann, als vom Bauernhof her das vertraute Krächzen ihres Perlhuhns zu ihr drang, dachte sie: Ich habe eine Neuigkeit für dich, Marguerite, ich habe ein Geheimnis, das ich dir anvertrauen möchte, mein Liebling. Ich bin nicht Mary. Das ist ein Irrtum. Ich bin kein Mädchen. Ich bin ein Junge.
    So also hat sie damals angefangen, die lange Reise der Mary Ward.
    Inmitten eines nicht zeitgleichen Schweigens, von dem niemand sagen konnte, wie lange es dauerte, denn ebensowenig wie Sonny gewußt hatte, wann er damit beginnen sollte, wußte er, wann er damit aufhören sollte. Er ließ seine Familie einfach dort draußen im Schneeregen stehen und wartete, und es kam ihnen lange vor.
Der Baby-Schönheitswettbewerb
    Im April jenes Jahres erfroren Sonny elf Lämmer. Bei Ärger wurde er immer taub. Je ärgerlicher er wurde, um so lauter brüllte er herum.
    Ein Teil seines linken Ohrs war ihm im Krieg weggeschossen worden. Er hatte zugesehen, wie ein Stückchen von ihm auf dem Rhein davonschwamm. Geblieben war ein sich gabelndes Knorpelgebilde, das ausschaute wie eine weiche Koralle. Wenn ihn die taube Wut packte, bohrte er mit dem Daumen in dieser Koralle, bis ihm das Blut den Nacken hinunterlief.
    Sonny brachte die erfrorenen Lämmer seinem Nachbarn Ernie Loomis zum Verarbeiten und Lagern im Kühlraum. Auf Sonnys Hof ließ man nichts verkommen. Er konnte es auch nicht ertragen, wie Estelle immer nachlässiger im Haus wurde. Sie war manchmal so zerstreut, daß sie nicht einmal wußte, was sie in der Hand hielt. Er hätte ihr dann am liebsten einen Stoß versetzt, ihre Gedanken mit einem Schlag auf den Kopf aufgeweckt. An jenem Tag, als sie ihr Haar mit der Seide zusammengenäht hatte, hatte er sie die Naht Stich für Stich mit einer Rasierklinge auftrennen lassen, bis das ganze Haar wieder draußen war.
    In einem Silberrahmen auf dem Kamin in der Küche hatte Estelle eine Fotografie ihrer Mutter stehen. Diese war Klavierlehrerin gewesen. Das Bild zeigte sie so, wie sie 1935 gewesen war, ein Jahr vor ihrem plötzlichen Tod in einem Segelflugzeug. Sie war Mitglied der Women’s League of Health and Beauty gewesen, und so hatte Estelle sie auch in Erinnerung behalten: gesund, mit welligem, glänzendem Haar, und schön, mit einem freundlichen Lächeln.

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