Die vierte Hand
noch, der einhändige Journalist wurde zum Interviewer der Wahl für diverse Freaks und Spinner; daß der Internationale 24-Stunden-Kanal bereits wegen der Ausstrahlung von Versehrungen und Verstümmelungen verrufen war, unterstrich nur Patricks Image als eines unwiderruflich geschädigten Mannes. Natürlich waren die Nachrichten im Fernsehen katastrophenbestimmt. Warum sollte der Sender Wallingford nicht auf Reißerisches, auf die Geschichten hinter den Nachrichten ansetzen? Man gab ihm grundsätzlich die anzüglichen, schlüpfrigen Leckerbissen - die Ehe, die weniger als einen Tag Bestand hatte, oder eine, die es nicht über die Flitterwochen schaffte; den Ehemann, der nach acht Jahren Ehe dahinterkam, daß seine Frau ein Mann war.
Patrick Wallingford war der Katastrophenmann des Nachrichtensenders, der Sonderkorrespondent am Schauplatz der schlimmsten (sprich bizarrsten) Unfälle. Er berichtete über einen Zusammenstoß zwischen einem Touristenbus und einer Fahrrad-Rikscha - die beiden Todesopfer waren thailändische Prostituierte, die in der Rikscha zur Arbeit fuhren. Wallingford interviewte ihre Angehörigen und ihre ehemaligen Kunden; die beiden Kategorien waren verteufelt schwer auseinanderzuhalten, aber jeder Interviewte fühlte sich gezwungen, auf den Stumpf oder die Prothese am Ende von Patricks linkem Arm zu starren.
Immer beäugten sie den Stumpf oder die Prothese. Er haßte sie beide - und auch das Internet. Für ihn diente das Internet hauptsächlich dazu, die seinem Berufsstand eigene Faulheit - ein übermäßiges Vertrauen auf sekundäre Quellen und andere Schnellverfahren - noch zu unterstützen. Journalisten hatten sich schon immer bei anderen Journalisten bedient, aber mittlerweile war es allzu einfach.
Seine zornige Exfrau, ebenfalls Journalistin, war ein einschlägiges Beispiel. Marilyn rühmte sich, »Porträts« ausschließlich hochliterarischer Autoren und ernsthaftester Schauspieler und Schauspielerinnen zu schreiben. (Es verstand sich von selbst, daß der Journalismus in den Printmedien dem Fernsehen überlegen war.) In Wirklichkeit aber las Patricks Exfrau zur Vorbereitung auf ihre Interviews mit Autoren nicht deren Bücher - von denen einige zugegebenermaßen auch zu lang waren -, sonderen deren frühere Interviews. Ebensowenig machte sich Marilyn die Mühe, sich jeden Film anzusehen, in dem die Schauspieler und Schauspielerinnen, die sie interviewte, mitwirkten; unverschämterweise las sie statt dessen die Kritiken dieser Filme.
Angesichts seiner Vorbehalte gegenüber dem Internet bekam Wallingford von der Publicitykampagne auf www.needahand.com nichts mit; er hatte noch nie von Schatzman, Gingeleskie, Mengerink & Partner gehört, bis Dr. Zajac ihn anrief. Zajac wußte bereits von Patricks Mißgeschicken mit diversen prothetischen Hilfen, nicht bloß von dem im SoHo, das recht viel Beachtung fand: Er klemmte sich seine künstliche Hand in der hinteren Tür eines Taxis ein; der Fahrer fuhr unbekümmert noch ungefähr einen Häuserblock weiter. Der Doktor wußte auch von der peinlichen Verwickelung mit dem Sicherheitsgurt auf dem Flug nach Berlin, wo Wallingford einen Verrückten interviewen wollte, der verhaftet worden war, weil er in der Nähe des Potsdamer Platzes einen Hund in die Luft gesprengt hatte. (Der Spinner hatte, angeblich aus Protest gegen die neue Kuppel auf dem Reichstag, eine Sprengladung am Halsband des Hundes angebracht.)
Patrick war der Fernsehjournalist für ziellose Akte höherer Gewalt und willkürlichen Unsinns geworden. Wildfremde Menschen riefen ihn aus vorbeifahrenden Taxis an - »He, Löwenmann!« Fahrradboten spuckten zuerst ihre Pfeifen aus, um dann »Yo, Katastrophenmann!« zu posaunen.
Schlimmer noch, Patrick konnte seinen Job so wenig leiden, daß er jegliches Mitgefühl für die Opfer und ihre Angehörigen verloren hatte; wenn er sie interviewte, merkte man ihm diesen Mangel an Mitgefühl an. Deshalb wurde Wallingford, statt daß man ihn feuerte - da es ein Arbeitsunfall war, hätte er womöglich geklagt -, weiter derart ins Abseits gedrängt, daß es seinem nächsten Auftrag sogar an Katastrophenpotential fehlte. Man schickte ihn nach Japan, um über eine Tagung zu berichten, die von einem Konsortium japanischer Zeitungen gesponsert wurde. Auch das Thema der Tagung überraschte ihn - es lautete ›Die Zukunft der Frau‹, was ganz gewiß nicht nach Katastrophe klang. Doch die Vorstellung, daß Patrick Wallingford zu dieser Tagung fuhr... darüber
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