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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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so nannte sie Wallingford bei sich. (Seiner Vorstellung nach waren die meisten Künstler Hochstapler; sie verkauften etwas Unwirkliches, etwas Erfundenes.) Was also würde er in seiner Eröffnungsrede sagen? Er war nicht völlig aufgeschmissen - schließlich hatte er nicht umsonst in New York gelebt. Er hatte sein Quantum an Anlässen mit Smokingzwang durchlitten; er wußte, was für Quatschköpfe die meisten Conferenciers waren - Quatsch reden konnte er auch. Deshalb beschloß Patrick, in seiner Eröffnungsrede nicht mehr und nicht weniger als das modische, nachrichtenkluge Geschwätz eines Conferenciers von sich zu geben - den unehrlichen, sich selbst herabsetzenden Humor eines Menschen, der sich wohl zu fühlen scheint, während er sich über sich selbst lustig macht. Mit diesem Vorhaben lag er gründlich daneben. Wie wäre es zum Beispiel mit folgendem Anfang? »Angesichts dessen, daß meine bedeutendste und vergleichsweise bescheidene Leistung darin besteht, daß ich vor fünf Jahren in Indien illegalerweise meine Hand an einen Löwen verfüttert habe, macht es mich befangen, vor einem so illustren Publikum zu sprechen.«
    Das würde bestimmt das Eis brechen. Bei Wallingfords letzter Rede hatte es ihm einen Lacher eingebracht, einer Rede, die gar keine richtige Rede gewesen war, sondern ein Toast bei einem Essen zu Ehren der Olympiateilnehmer im New York Athletic Club. Die Frauen in Tokio würden sich als schwierigeres Publikum erweisen.
    Daß die Fluggesellschaft Wallingfords eingechecktes Gepäck, eine prall gefüllte Reisetasche, verschlampte, schien für den weiteren Verlauf des Unternehmens kennzeichnend. Der zuständige Vertreter der Fluglinie sagte zu ihm: »Ihr Gepäck ist unterwegs auf die Philippinen - morgen ist es wieder da!«
    »Sie wissen schon, daß mein Gepäck auf dem Weg auf die Philippinen ist?«
    »Gebiß, Sir«, antwortete der Mann, jedenfalls verstand ihn Patrick so; in Wirklichkeit hatte er gesagt: »Gewiß, Sir«, aber Wallingford hatte sich verhört. (Patricks kindische, unschöne Angewohnheit, fremdländische Akzente nachzuäffen, war fast ebenso unsympathisch wie sein zwanghaftes Lachen, wenn jemand stolperte oder hinfiel.) Zwecks näherer Erläuterung fügte der Mann von der Fluglinie hinzu: »Das verlorene Gepäck dieses Fluges aus New York geht immer auf die Philippinen.« »›Immer‹?« fragte Wallingford.
    »Und ist auch immer morgen wieder da«, erwiderte der Mann. Es folgte der Hubschrauberflug vom Flughafen zum Dach seines Hotels in Tokio. Für den Hubschrauber hatten Wallingfords japanische Gastgeber gesorgt.
    »Ah, Tokio in der Dämmerung - was kann sich damit messen?« sagte eine streng wirkende Frau, die im Hubschrauber neben Patrick saß. Er hatte nicht bemerkt, daß sie auch im Flugzeug von New York gewesen war - wahrscheinlich, weil sie eine wenig schmeichelhafte Schildpattbrille trug und Patrick ihr allenfalls einen flüchtigen Blick geschenkt hatte. (Bei ihr handelte es sich natürlich um die amerikanische Autorin und selbsternannte radikale Feministin.)
    »Sie machen Witze, will ich hoffen«, sagte Patrick zu ihr.
    »Ich mache immer Witze, Mr. Wallingford«, antwortete die Frau. Mit einem kurzen, festen Händedruck stellte sie sich vor. »Ich bin Evelyn Arbuthnot. Ich habe Sie an Ihrer Hand erkannt - der anderen.« »Hat man Ihr Gepäck auch auf die Philippinen geschickt?« erkundigte sich Patrick.
    »Sehen Sie mich an, Mr. Wallingford«, forderte Ms. Arbuthnot ihn auf. »Ich beschränke mich grundsätzlich auf Bordgepäck. Meine Sachen gehen nicht verloren.«
    Vielleicht hatte er Evelyn Arbuthnots Fähigkeiten unterschätzt; vielleicht sollte er versuchen, eines ihrer Bücher aufzutreiben und sogar zu lesen. Doch unter ihnen lag Tokio. Er konnte erkennen, daß die Dächer vieler Hotels und Bürogebäude Hubschrauberlandeplätze hatten, über denen andere Hubschrauber einschwebten. Es war, als wäre eine militärische Invasion der riesigen, dunstverhangenen Stadt im Gange, die in der Dämmerung, im verblassenden Sonnenuntergang, eine Skala unwahrscheinlicher Farben, von Pink bis Blutrot, zeigte. Für Wallingford sahen die Hubschrauberlandeplätze wie das Schwarze von Zielscheiben aus; er versuchte zu erraten, auf welches Schwarze ihr Hubschrauber zielte. »Japan«, sagte Evelyn Arbuthnot entnervt. »Sie mögen Japan nicht?« fragte Patrick sie.
    »Mögen tue ich überhaupt kein Land«, verriet sie, »aber die Mann-Frau-Problematik ist hier besonders ausgeprägt.«

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