Die vierte Hand
deuten - jedenfalls meinte Otto normalerweise zu wissen, was seine Frau dachte. Mehr als alles andere auf der Welt wünschte sie sich ein Kind. Auch ihr Mann wollte, daß sie eines bekam - in diesem Punkt konnte sie ihm nichts vorwerfen. Daß sie keine Kinder hatte, belastete sie schrecklich, und sie wußte, daß es Otto ebenso erging.
Was diesen speziellen Fall von Grippe anging, hatte Otto seine Frau noch nie so krank erlebt; er erbot sich, zu Hause zu bleiben und sich um sie zu kümmern. Sie konnten sich das Spiel am Apparat im Schlafzimmer anschauen. Aber Mrs. Clausen war so krank, daß sie sich überhaupt nicht vorstellen konnte, sich das Spiel anzuschauen, dabei war auch sie ein echter Cheesehead; daß sie ihr Leben lang Packer-Fan gewesen war, bildete ein starkes Band zwischen den beiden. Sie hatte sogar einmal für die Green Bay Packers gearbeitet. Sie und Otto hätten Karten für das Spiel in San Diego bekommen können, aber Otto flog nicht gern. Nun war sie tief gerührt: Otto liebte sie so sehr, daß er sogar darauf verzichten würde, sich in der Sportkneipe das Spiel anzusehen. Mrs. Clausen wollte nichts davon wissen, daß er zu Hause blieb. Obwohl ihr zum Sprechen eigentlich zu übel war, nahm sie alle Kraft zusammen und verkündete in einem vollständigen Satz eine jener oft wiederholten Wahrheiten der Sportwelt, die Footballfans zustimmend verstummen lassen (und die zugleich jeder, der sich nichts aus Football macht, als kolossale Dummheit empfindet). Es gibt keine Garantie dafür, daß man die Super Bowl noch mal erreicht«, stellte Mrs. Clausen fest. Otto war auf geradezu kindliche Weise bewegt. Selbst auf dem Krankenbett lag seiner Frau daran, daß er seinen Spaß hatte. Doch eines ihrer beiden Autos war wegen eines kleineren Unfalls mit Blechschaden auf einem Supermarkt-Parkplatz in der Werkstatt. Otto wollte seine Frau nicht ohne Wagen krank zu Hause lassen.
»Ich nehme den Bierlaster«, sagte er zu ihr. Der Bierlaster war leer, und Otto war mit allen in der Sportkneipe befreundet; sie würden ihm erlauben, den Wagen vor der Lieferanteneinfahrt zu parken. Am Super-Bowl-Sonntag wurde ohnehin nichts geliefert.
»Auf geht's, Packers!« sagte seine Frau schwächlich - sie war bereits am Einschlafen. In einer Geste stummer Zärtlichkeit, an die sie noch lange zurückdenken würde, legte Otto die Fernbedienung neben sie aufs Bett und vergewisserte sich, daß der richtige Sender eingestellt war. Dann fuhr er zum Spiel. Der Bierlaster war leichter, als Otto es gewohnt war; immer wieder überpüfte er seine Geschwindigkeit, während er das große Fahrzeug durch die sonntäglich leeren Straßen steuerte. Seit seinem sechsten oder siebten Lebensjahr hatte Otto Clausen keinen Kickoff eines Packer-Spiels verpaßt, und diesen würde er auch nicht verpassen. Er war zwar erst neununddreißig, aber er hatte alle einunddreißig vorangegangenen Super Bowls gesehen. Er würde auch die zweiunddreißigste Super Bowl sehen, und zwar vom ersten Kickoff bis zum bitteren Ende.
Die meisten Sportjournalisten räumten später ein, daß die zweiunddreißigste Super Bowl mit zu den besten gehörte, die je gespielt worden waren - ein knappes, spannendes Spiel, das der Underdog gewann. Es ist allgemein bekannt, daß die meisten Amerikaner Underdogs lieben, nicht aber in Green Bay, Wisconsin, im Falle der zweiunddreißigsten Super Bowl, in der die Denver Broncos, der Außenseiter, die Packers schlugen und damit alle Cheeseheads in tiefe Niedergeschlagenheit stürzten. Am Ende des vierten Viertels standen die Green-Bay-Fans am Rande des Selbstmordes - nicht unbedingt jedoch Otto, der zwar auch niedergeschlagen, aber außerdem noch sturzbetrunken war. Er war während eines Bierwerbespots in den letzten zwei Spielminuten am Tresen fest eingeschlafen; zwar wachte er im Moment der Spielfortsetzung wieder auf, hatte sich zuvor jedoch ein weiteres Mal einer ungekürzten Fassung seines schlimmsten wiederkehrenden Traums ausgesetzt gesehen, der ihm Stunden länger vorkam als der Bierwerbespot. Er befand sich in einem Kreißsaal, und in einer Ecke stand ein Mann, von dem er nichts als ein Augenpaar über einer Chirurgenmaske sah.
Eine Geburtshelferin entband seine Frau, assistiert von einer Schwester, von der er sicher war, daß er sie noch nie gesehen hatte. Die Geburtshelferin war Mrs. Clausens Frauenärztin; die Clausens waren oft gemeinsam bei ihr gewesen.
Zwar hatte Otto, als er den Traum zum ersten Mal träumte, den Mann in der
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