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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Ecke nicht erkannt, doch mittlerweile wußte er im voraus, wer der Mann war, so daß ihn eine dunkle Vorahnung beschlich. Als das Baby auf der Welt war, zeigte das Gesicht seiner Frau eine so überwältigende Freude, daß Otto jedesmal im Schlaf weinte. In diesem Augenblick nahm der andere Mann die Maske ab. Es war dieser playboyhafte Fernsehreporter - der Löwenmann, der Katastrophenmann. Scheiße, wie hieß er doch gleich? Jedenfalls galt die Freude in Mrs. Clausens Gesicht ihm, nicht Otto; es war, als wäre Otto gar nicht im Kreißsaal oder als wüßte nur Otto, daß er da war. Außerdem stimmte an dem Traum nicht, daß der Löwenmann zwei Hände hatte, in denen er das Neugeborene hielt. Plötzlich griff Ottos Frau nach oben und streichelte ihm den linken Handrücken. Da sah es Otto selbst. Er starrte an seinem Körper hinunter, suchte nach seinen Händen. Die linke war weg - seine linke Hand war weg! Das war der Moment, in dem Otto schluchzend aufwachte. Diesmal, in der Sportkneipe in Green Bay, bei einer Restspielzeit von knapp zwei Minuten in der Super Bowl, mißverstand ein anderer Packer-Fan seinen Schmerz und klopfte Otto auf die Schulter. »Scheißspiel«, sagte er mit bärbeißigem Mitgefühl.
    Betrunken wie er war, mußte sich Otto heftig zusammenreißen, um nicht wieder einzudösen. Es ging nicht darum, daß er das Ende des Spiels nicht verpassen wollte; er wollte nicht noch einmal diesen Traum träumen, jedenfalls nicht, wenn es nach ihm ging.
    Natürlich war ihm klar, woher der Traum kam, und er schämte sich deswegen so sehr, daß er seiner Frau nie von dem Traum erzählte. Als Bierfahrer glaubte Otto, der Jugend von Green Bay ein Vorbild geben zu müssen - noch nie war er betrunken gefahren. Überhaupt trank Otto kaum, und wenn, dann nichts Stärkeres als Bier. Sofort schämte er sich ebensosehr für seine Betrunkenheit wie für seinen Traum und den Ausgang des Spiels.
    »Ich bin zu betrunken zum Fahren«, gestand Otto dem Barkeeper, einem anständigen Mann und getreuen Freund. Der Barkeeper wünschte, es gäbe mehr Betrunkene wie Otto Clausen, das heißt verantwortungsbewußte.
    Sie einigten sich rasch darauf, wie Otto am besten nach Hause käme, nämlich nicht, indem er sich von einem seiner betrunkenen und niedergeschlagenen Freunde mitnehmen ließ. Er konnte den Bierlaster ohne weiteres die knapp fünfzig Meter von der Lieferanteneinfahrt zum Parkplatz der Kneipe fahren, so daß er etwaige Lieferungen am Montag morgen nicht behinderte. Da der Parkplatz und die Lieferanteneinfahrt nebeneinanderlagen, mußte er nicht einmal einen öffentlichen Bürgersteig oder eine öffentliche Straße überqueren. Dann würde der Barkeeper ihm ein Taxi rufen, das ihn nach Hause brachte.
    Nein, nein, nein - ein Anruf sei nicht nötig, hatte Otto gemurmelt. Er habe ein Handy in seinem Wagen. Er werde zuerst den Wagen wegfahren, dann selbst ein Taxi rufen und in seinem Wagen darauf warten. Außerdem wollte er seine Frau anrufen - um festzustellen, wie es ihr ging, und um mit ihr über die tragische Niederlage von Green Bay zu trauern. Im übrigen würde die kalte Luft ihm guttun.
    Was die Wirkung der kalten Luft anging, mag er sich weniger sicher gewesen sein als im Hinblick auf den Rest seines Plans, aber er wollte sich auch die Nachberichterstattung im Fernsehen ersparen. Der Anblick der durchgedrehten Denver-Fans im Massentaumel ihrer Feiern wäre wirklich widerlich, genau wie die Wiederholung der Szenen, in denen Terrell Davis durch das Backfield der Packers spaziert war. Der Runningback der Broncos hatte die Defense von Green Bay so weich aussehen lassen wie... nun ja, Käse.
    Bei dem Gedanken an die Angriffszüge von Denver fühlte sich Otto kotzelend, oder aber seine Frau hatte ihn angesteckt. So mies hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er gesehen hatte, wie ein Löwe diesem Schönling von einem Journalisten die Hand weggefressen hatte. Wie hieß das Arschgesicht bloß?
    Mrs. Clausen wußte den Namen des unglücklichen Reporters. »Wie es wohl dem armen Patrick Wallingford so geht?« sagte sie zuweilen aus heiterem Himmel, worauf Otto den Kopf schüttelte und sich kotzelend fühlte.
    Nach kurzem, andächtigem Schweigen fügte seine Frau dann hinzu: »Ich würde dem armen Mann meine eigene Hand geben, wenn ich wüßte, daß ich bald sterbe. Du nicht auch, Otto?«
    »Ich weiß nicht - ich kenne ihn ja nicht mal«, hatte Otto erwidert. »Es ist nicht so, als gäbe man einem Fremden eines seiner Organe. Das

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