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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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vorwerfen, was man wollte, aber in einem Punkt hatte sie recht - Patrick war immer ein Junge geblieben. Aber vielleicht konnte er ja erwachsen werden, jedenfalls hoffte er das.
    Bedeutende Veränderungen im Leben eines Menschen sind häufig von einem prägenden Erlebnis gekennzeichnet. Patrick Wallingfords prägendes Erlebnis war weder der Verlust seiner linken Hand noch die Gewöhnung an ein Leben ohne diese Hand. Das Erlebnis, das ihn nachhaltig veränderte, war eine weitgehend verplemperte Japanreise. »Erzähl uns von Japan, Pat. Wie war's?« fragten ihn die schlagfertigen Frauen im New Yorker Nachrichtenstudio in ihrem ewig koketten, ewig lockenden Ton. (Von Dick hatten sie bereits erfahren, daß Wallingford »Möse« gehört, als Dick »Böse« gesagt hatte.)
    Doch wenn man Wallingford nach Japan fragte, wich er aus. »Japan ist ein Roman«, sagte er dann und beließ es dabei.
    Er war bereits überzeugt, daß die Japanreise den aufrichtigen Wunsch in ihm geweckt hatte, sein Leben zu ändern, Er würde alles dafür riskieren. Es würde bestimmt nicht leicht sein, aber er glaubte, daß er den nötigen Willen besaß, es zu versuchen. Es ehrte ihn, daß er, sobald er das erste Mal mit Mary Soundso im Nachrichtenstudio allein war, sagte: »Es tut mir sehr leid, Mary. Es tut mir ehrlich und aufrichtig leid, daß ich das gesagt und dich so aufgeregt habe -«
    Sie unterbrach ihn. »Aufgeregt hat mich nicht, was du gesagt hast, sondern meine Ehe. Sie funktioniert nicht so besonders, und ich bin schwanger.«
    »Das tut mir leid«, sagte Patrick erneut.
    Dr. Zajac anzurufen und zu bekräftigen, daß er sich der Transplantation unterziehen wolle, war relativ leicht gewesen.
    Als Patrick das nächste Mal kurz mit Mary allein war, beging er ohne böse Absicht einen Fauxpas. »Wann ist es denn soweit, Mary?« (Man sah ihr noch nichts an.)
    »Ich habe das Kind verloren!« stieß Mary hervor; sie brach in Tränen aus.
    »Das tut mir leid«, wiederholte Patrick.
    »Das war schon meine zweite Fehlgeburt«, vertraute die unglückliche junge Frau ihm an. Sie schluchzte an seiner Brust und machte ihm das Hemd naß. Als einige der fixen Frauen des New Yorker Nachrichtenstudios die beiden sahen, warfen sie einander ihre angelegentlichsten Blicke zu. Aber sie hatten unrecht - diesmal jedenfalls. Wallingford versuchte wirklich, sich zu ändern.
    »Ich hätte mit dir nach Japan fahren sollen«, flüsterte Mary Soundso ihm ins Ohr.
    »Nein, Mary, nein, nein«, sagte Wallingford. »Du hättest nicht mit mir nach Japan fahren sollen, und es war falsch von mir, das vorzuschlagen.« Aber die junge Frau weinte nur um so heftiger. In Gesellschaft weinender Frauen tat Patrick Wallingford das, was viele Männer tun - er dachte an etwas anderes. Zum Beispiel, wie man eigentlich auf eine Hand wartet, wenn man fünf Jahre lang keine gehabt hat. Ungeachtet seiner kürzlich geschlossenen Bekanntschaft mit Sake konnte man ihn nicht als Trinker bezeichnen; aber er fand merkwürdigerweise Gefallen daran, sich spätnachmittags in eine ihm unbekannte Bar - jedesmal eine andere - zu setzen. Eine Art Überdruß zwang ihn dazu, dieses Spiel zu spielen. Wenn die Cocktailstunde kam und das Lokal sich mit Leuten füllte, die auf Geselligkeit aus waren, saß Patrick Wallingford einfach nur da und trank sein Bier; sein Ziel war es, eine Aura von so unnahbarer Traurigkeit zu verbreiten, daß keiner seine Einsamkeit stören würde.
    Sie erkannten ihn natürlich alle; wohl hörte er dann und wann ein geflüstertes »Löwenmann« oder »Katastrophenmann«, aber niemand sprach ihn an. Darin bestand das Spiel - es war eine schauspielerische Übung im Finden des richtigen Ausdrucks. (Bemitleidet mich, besagte dieser Ausdruck. Bemitleidet mich, aber laßt mich zufrieden.) Es war ein Spiel, das er bald ziemlich gut beherrschte.
    Dann ging Wallingford eines Spätnachmittags - kurz vor der Cocktailstunde - in eine Bar in seinem früheren New Yorker Viertel. Für den Doorman des Hauses, in dem Patrick ehedem gewohnt hatte, war es zwar noch zu früh, seine Nachtschicht anzutreten, aber Wallingford war dennoch überrascht, ihn in der Bar anzutreffen - und das um so mehr, als er seine Uniform nicht anhatte.
    »Tag, Mr. O'Neill«, begrüßte ihn Vlad oder Vlade oder Lewis. »Ich hab gesehen, daß Sie in Japan waren. Die spielen dort doch ziemlich gut Baseball, oder? Ist wahrscheinlich eine Alternative für Sie, falls es hier nicht so klappt.«
    »Wie geht's Ihnen, Lewis?« fragte

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