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Die vierte Hand

Die vierte Hand

Titel: Die vierte Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Zajacs Augen nur ein Medizinethiker ausgedacht haben. Zajac traute Medizinethikern nicht über den Weg; nach seiner Überzeugung sollten sie sich aus dem Gebiet der experimentellen Chirurgie heraushalten. Ständig mischten sie sich ein - gaben sich alle Mühe, die Chirurgie »menschlicher« zu gestalten.
    Die Medizinethiker beschwerten sich, Hände seien nicht lebensnotwendig, die Medikamente gegen die Abstoßung bärgen viele Risiken und müßten lebenslang eingenommen werden. Die ersten Empfänger, argumentierten sie, sollten Menschen sein, die beide Hände verloren hatten; doppelt Handamputierte hätten schließlich mehr zu gewinnen als Empfänger, die nur eine Hand verloren hatten.
    Aus unerfindlichen Gründen waren die Medizinethiker hellauf begeistert von Mrs. Clausens Forderung - nicht nur von dem makabren Besuchsrecht, sondern auch davon, daß sie darauf bestand, Patrick Wallingford kennenzulernen und zu entscheiden, ob er ihr sympathisch war, ehe sie der Operation zustimmte. (»Menschlicher« geht es nicht.) »Sie will einfach sehen, ob Sie ... nett sind«, versuchte Dr. Zajac zu erklären.
    Diesen neuerlichen Affront empfand Wallingford nicht nur als Beleidigung, sondern auch als Provokation; er fühlte sich zugleich gekränkt und herausgefordert. War er nett? Er wußte es nicht. Er hoffte es, aber wie viele von uns wissen es wirklich?
    Was Dr. Zajac anging, so wußte der Arzt, daß er selbst nicht sonderlich nett war. Er war vorsichtig optimistisch, daß Rudy ihn liebte, und er wußte natürlich, daß er seinen kleinen Jungen liebte. Doch was ihn selbst in puncto Nettigkeit anging, machte sich der Handspezialist keine Illusionen; außer für seinen Sohn war Dr. Zajac noch nie sonderlich liebenswert gewesen.
    Mit einem leisen Stich entsann sich Zajac seines kurzen Blicks auf Irmas Bauchmuskeln. Sie machte wohl den ganzen Tag Sit-ups und Crunches! »Ich lasse Sie jetzt mit Mrs. Clausen allein«, sagte Dr. Zajac und legte Patrick untypischerweise die Hand auf die Schulter. »Ich werde mit ihr allein sein?« fragte Wallingford. Er wollte mehr Zeit, um sich vorzubereiten, um Nettigkeiten auszuprobieren. Aber er brauchte nur eine Sekunde, um sich Ottos Hand vorzustellen; vielleicht war das Eis schon am Schmelzen. »Okay, okay, okay«, sagte er.
    Als folgten sie einer Choreographie, tauschten Dr. Zajac und Mrs. Clausen im Sprechzimmer des Arztes die Plätze. Beim dritten »okay« merkte Wallingford, daß er mit der frischgebackenen Witwe allein war. Als er sie sah, überlief ihn ein plötzliches Frösteln - eine Empfindung, die er sich später als ein Gefühl wie von einem kalten See dachte. Man darf nicht vergessen, daß sie die Grippe hatte. Als sie sich in der Nacht der Super Bowl aus dem Bett aufrappelte, hatte sie immer noch Fieber. Sie zog saubere Unterwäsche und die Jeans an, die auf dem Stuhl neben dem Bett lagen, dazu das verblichene grüne Sweatshirt - Green-Bay-grün, mit der Aufschrift in Gold. Jeans und Sweatshirt hatte sie schon angehabt, als sie sich krank zu fühlen begann. Außerdem schlüpfte sie in ihren alten Parka.
    Mrs. Clausen hatte das verblichene grüne Sweatshirt schon, seit sie ihrer Erinnerung nach mit Otto zu dem Cottage gefahren war. Das alte Sweatshirt hatte die Farbe der Tannen und Mastbaumkiefern am anderen Seeufer bei Sonnenuntergang. Es hatte Nächte im Bootshaus gegeben, da hatte sie das Sweatshirt als Kissenbezug benutzt, weil man Wäsche dort nur im See waschen konnte.
    Selbst jetzt, als sie mit verschränkten Armen - als wäre ihr kalt oder als wollte sie vermeiden, daß Patrick Wallingford auch nur einen flüchtigen Eindruck von ihren Brüsten bekam - in Dr. Zajacs Sprechzimmer stand, konnte Mrs. Clausen beinahe die Kiefernnadeln riechen, und sie spürte Ottos Anwesenheit so stark, als befände er sich hier im Raum. Angesichts von Dr. Zajacs Fotogalerie berühmter Patienten ist es ein Wunder, daß weder Patrick Wallingford noch Mrs. Clausen die sie umgebenden Wände sonderlich beachteten. Die beiden waren zu sehr damit beschäftigt, einander wahrzunehmen, obwohl anfangs kein Blickkontakt zwischen ihnen bestand.
    Mrs. Clausens Laufschuhe waren in dem Schnee in Wisconsin feucht geworden und kamen Wallingford, der sich dabei ertappte, daß er auf ihre Füße starrte, noch immer feucht vor.
    Mrs. Clausen zog ihren Parka aus und setzte sich auf den Stuhl neben Patrick. Er hatte den Eindruck, daß sie sich, wenn sie etwas sagte, an seine verbliebene Hand wandte.
    »Otto fand das

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