Die vierte Todsuende
Ah, was für ein herrlicher Mensch war er doch?«
»Sie gingen zweimal wöchentlich zu ihm?«
»Für gewöhnlich ja. Manchmal, wenn ich es nicht aushalten konnte, auch öfter.«
»Seit wann waren Sie Patientin von Doktor Ellerbee?«
»Seit vier Jahren. Vier Jahre und drei Monate genau.«
»Und hatten Sie das Gefühl, er konnte Ihnen helfen?«
»Aber gewiss! Meine Angstanfälle kommen viel seltener. Und diese … diese Sachen mache ich auch nicht mehr so oft. Was ich jetzt ohne ihn anfangen soll, weiß ich nicht. Seine Frau — ich meine, seine Witwe, sieht sich nach jemand anderem für mich um, aber das ist bestimmt nicht dasselbe wie mit Doktor Ellerbee.«
»Was meinen Sie mit Sachen? Solche Sachen machen Sie nicht mehr so oft, sagten Sie«, fragte Boone ziemlich schroff. »Was meinen Sie damit?«
Sie hob das runde Kinn. »Wenn ich auf der Straße bin, gehe ich manchmal auf Passanten los.«
»Ohne Grund?«
»Ja.«
»Einerlei, wer sie sind?« fragte Delaney. »Egal, ob auf der Straße oder, sagen wir, in einem Lokal?«
»Auf Männer mit Bart«, hauchte sie und ließ den Kopf wieder hängen. »Nur auf Männer mit Bart. Mit elf Jahren hat mich mein Onkel vergewaltigt.«
»Und der hatte einen Bart.«
Sie hob den Kopf und sah ihn trotzig an. »Er nicht. Aber es passierte in seinem Büro, und an der Wand hing ein Stich von General Grant.«
O je, dachte Delaney, jetzt geht der Zirkus los. Und er schämte sich dafür, dass sie dieser hilflosen Person ein solches Geständnis entrissen hatten.
»Seit Sie Doktor Ellerbees Patientin waren, sind also solche… solche Angriffe seltener vorgekommen?«
»Ja, doch. Er hat den Zusammenhang zwischen der Vergewaltigung und dem bärtigen Mann aufgedeckt.«
»Wann haben Sie zuletzt einen Fremden angegriffen?«
»Ach…, das ist Monate her.«
»Wie viele Monate?«
»Einen oder zwei.«
»Es war für Sie doch gewiss sehr schmerzhaft, als Doktor Ellerbee Ihnen den Zusammenhang zwischen bärtigen Männern und ihrem… Erlebnis erklärte?«
»Er hat es mir nicht erklärt. So etwas tat er nie. Er hat mich dahin gebracht, das selber zu erkennen.«
»Aber auch das muss doch schmerzhaft gewesen sein?«
»Ja«, flüsterte sie, »ich habe ihn dafür gehasst, dass er mir das in Erinnerung gerufen hat.«
»Wann hat sich das zugetragen? Kürzlich?«
»Nein, vor Monaten schon.«
»Vor wie vielen Monaten?«
»Vor einem oder zweien«, sagte sie wieder.
»Vorhin nannten Sie Doktor Ellerbee einen Heiligen. Ihr Hass war demnach nicht von Dauer?«
»Nein. Ich wusste ja, dass er mir helfen wollte.«
Delaney blickt den Sergeant an.
»Waren Sie mit anderen Patienten von Doktor Ellerbee bekannt, Miss Otherton?« fragte der.
»Nein. Ich habe nur ganz selten welche gesehen, und gesprochen wurde dabei überhaupt nicht.«
»Kennen Sie Doktor Ellerbees Frau?«
»Zweimal bin ich ihr begegnet, und einmal habe ich mit ihr telefoniert.«
»Und welchen Eindruck hat sie auf Sie gemacht?«
»Oh, keinen besonderen eigentlich. Ziemlich mager und kalt. Kein solcher Charakter wie ihr Mann. Das war ein mitfühlender Mensch.«
»Wissen Sie, ob jemand ihm schaden wollte? Ob er bedroht wurde?«
»Nein, nichts dergleichen. Wer möchte schon einem Arzt etwas antun? Er war doch nur darauf aus zu helfen.«
»Haben Sie selbst ihn jemals tätlich angegriffen?«
»Einmal habe ich ihn geohrfeigt«, schluchzte sie.
»Und warum das?«
»Das weiß ich nicht mehr.«
»Wie hat er darauf reagiert?«
»Geohrfeigt hat er mich. Er hat zurückgeschlagen. Aber nicht sehr. Und dann sind wir uns in die Arme gesunken und mussten lachen.«
Sie schien nicht nur bereit, sondern geradezu darauf zu brennen, noch weiterzureden, doch der Geruch nach Sandelholz und Parfüm in Verbindung mit der feuchten Hitze waren für die beiden Kriminalisten zu viel. Delaney rappelte sich hoch.
»Haben Sie vielen Dank, Miss Otherton. Sie haben uns sehr geholfen. Bitte versuchen Sie, sich an Kleinigkeiten zu erinnern, die Ihnen im Moment entfallen sein könnten, einen Namen vielleicht, den er erwähnte, irgendein unbedeutendes Vorkommnis. Ja, noch etwas: Ist Ihnen vielleicht aufgefallen, dass er sich im, sagen wir, letzten halben Jahr verändert hat?«
»Komisch, dass Sie das fragen. Ja, ich fand, er war stiller geworden, merklich nachdenklicher. Nicht etwa deprimiert, verstehen Sie mich nicht falsch, aber… irgendwie in sich gekehrt? Ich habe ihn gefragt, ob er Sorgen hat, aber er sagte nein.«
»Sie waren sehr hilfsbereit,
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