Die vierte Todsuende
nur menschlich.«
Boone klingelte an der Tür zum Appartement 12 C. Sie warteten. Und warteten. Endlich hörten sie, wie Riegel zurückgeschoben wurden, und die Tür öffnete sich spaltbreit. Die Kette lag noch vor.
Eine dumpfe Stimme sagte: »Zeigen Sie Ihren Ausweis.«
Der Sergeant schob folgsam seinen Dienstausweis durch den Schlitz, und wieder warteten sie. Dann Schloss sich die Tür, und die Kette wurde entfernt. Nun ging die Tür weit auf.
»Füße abtreten, bevor Sie reinkommen«, sagte die dumpfe Stimme. Sie gehorchten.
In der Wohnung war es so düster — die schweren Vorhänge waren zugezogen —, dass man kaum etwas erkennen konnte. Immerhin ahnte man wuchtige Möbel an den Wänden, und mit Mühe konnte man ausmachen, dass um eine Art Couchtisch zwei Sessel und eine riesige gepolsterte Ottomane gruppiert waren. Delaney schnupperte den Geruch von Sandelholz, und als seine Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten, erkannte er orientalische Wandbehänge sowie einen ramponierten japanischen Wandschirm, der den Raum unterteilte.
Die Frau, der sie sich gegenübersahen, wirkte mit dem gesenkten Kopf und dem zu einem Klumpen zusammengedrückten Papiertaschentuch in einer Faust beinahe ebenso exotisch wie ihre überheizte Wohnung.
Sie trug ein Gebilde aus schwarzen Spitzen über einem rosa Untergewand aus Satin, dessen Saum ihr bis auf die Füße fiel, zierliche Füße übrigens, die in silbernen Abendsandalen steckten.
Dazu trug sie unzählige Ketten um den Hals, manche aus Glasperlen, andere aus Muscheln, wieder andere aus kleinen hölzernen Kugeln. Manche schienen sie fast zu würgen, andere reichten ihr bis zur nur zu vermutenden Taille. Auch die gut gepolsterten Finger waren nicht ohne Schmuck, auf jedem saß mindestens ein Ring, auf manchen sogar zwei oder drei. Und als wäre das nicht genug, umspannten beide Unterarme Armreifen vom Gelenk bis zu den Ellenbogen.
»Sie sind Miss Sylvia Otherton?« fragte Boone.
Der gesenkte Kopf nickte kaum merklich.
»Dürfen wir vielleicht die Mäntel ablegen? Wir wollen nicht lange bleiben, aber es ist hier sehr warm.«
»Machen Sie, was Sie wollen«, sagte die Frau mürrisch.
Beide zogen die Mäntel aus, setzten sich auf die Ottomane und hielten die Mäntel auf den Knien. Die Ottomane war wie eine Art Federbett, in dem sie schier versanken.
Die einzige Beleuchtung im Raum war eine blaugefärbte Glühbirne, die in einer bronzenen Stehlampe steckte, welche die Form einer züngelnden Cobra hatte. In diesem ungewissen Licht war es fast ausgeschlossen, die Züge von Miss Otherton auszumachen, die sich nunmehr in einem der Sessel niederließ. Dafür rochen sie aber deutlich ihr Parfüm, es war noch stärker als der Sandelholzgeruch.
Boone begann sehr sanft: »Miss Otherton, Sie können sich wohl denken, dass unser Besuch im Zusammenhang mit dem Mordfall Ellerbee steht. Wir sprechen rein routinemäßig mit allen seinen Patienten. Ich bezweifle keinen Moment, dass Sie uns helfen werden, seinen Mörder zu finden.«
»Ein Heiliger war er«, rief sie, »ein Heiliger!« Dabei hob sie endlich den Kopf, und man konnte erstmals ihr Gesicht erkennen.
Es war ein sehr volles Gesicht, und im Moment zeigte es die Miene tiefster Betrübnis. Daran änderte auch der dick aufgetragene weiße Puder nichts, nicht die runden Flecken Rouge, nicht die dick geschminkten Lippen. Das schwarze Haar hing in Strähnen, ungekämmt, in den Ohrläppchen baumelten lange gläserne Ohrgehänge. Unter den ausgezupften Brauen starrten die Augen geschwollen und verweint.
»Miss Otherton«, fuhr Boone fort, »wir müssen wissen, wo Doktor Ellerbees Patienten sich aufgehalten haben, als er ermordet wurde. Wo waren Sie an jenem Freitagabend?«
»Hier war ich. Ich gehe so gut wie nie aus dem Haus.«
»Hatten Sie an diesem Abend vielleicht Besuch?«
»Nein.«
»Sind Sie vielleicht jemandem im Korridor oder auf der Treppe begegnet — einem Nachbar oder sonst jemandem?«
»Nein.«
»Haben Sie Telefongespräche geführt?«
»Nein.«
Boone gab auf. Nun war Delaney dran.
»Wie haben Sie den Abend verbracht, Miss Otherton? Haben Sie vielleicht gelesen, ferngesehen?«
»Ich schrieb an meiner Autobiographie. Doktor Ellerbee hat mich dazu angehalten. Er meinte, falls ich mich an alles erinnere und es niederschreibe, würde mir das helfen.«
»Und haben Sie das, was Sie zu Papier brachten, dem Doktor gezeigt?«
»Ja, wir haben dann darüber gesprochen. Er war so mitfühlend. So verständnisvoll.
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