Die vierte Todsuende
ich hätte bei Ihnen angerufen und würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen. Sie wird Ihnen bestätigen, dass ich kein Spinner bin. Ich gebe Ihnen meine Nummer, und Sie rufen mich zurück. Würden Sie mir den Gefallen tun?«
»Na ja, das sollte ich wohl. Es wird aber eine Weile dauern, bis ich sie erreiche, sicher hat sie gerade einen Patienten.«
»Ich kann warten «, sagte Delaney und gab ihr seine Telefonnummer.
Er räumte den Schreibtisch auf, legte die Unterlagen in die zugehörigen Mappen, bis auf den Bogen mit der Zeiteinteilung, die er noch einmal ansah. Wieder fühlte er sich irritiert durch die Dreistundenlücke bei Ellerbee, und er hoffte inständig, Carol Judd wäre imstande, ihm da weiterzuhelfen.
Es vergingen gut zwanzig Minuten, bis sie anrief.
»Mrs. Ellerbee sagt, Sie sind in Ordnung.«
»Dann ist es ja gut. Könnte ich jetzt gleich zu Ihnen kommen? Ich wohne einigermaßen nahe.«
»Na, hören Sie mal, erst muss ich hier etwas aufräumen. Es sieht grauenhaft aus bei mir. Sagen wir in einer halben Stunde.«
»Tausend Dank. In einer halben Stunde also.«
Das ließ ihm genügend Zeit für ein Bier und ein ›feuchtes‹ Sandwich, das er über die Spüle gebeugt verzehrte: Reste vom Huhn, Tomatenscheiben, Zwiebeln und darüber eine russische Salatsoße, alles in eine große Semmel gestopft.
Dann zog er den schweren Mantel an, setzte den Homburg auf und machte sich zu Fuß auf den Weg zu Carol Judd.
Das Wetter schien auf die Passanten anregend zu wirken, alles lief mit flottem Tempo. Es war kalt, aber klar, das Licht geradezu blendend, und der Wind Biss. Die Stadt wirkte verjüngt und strahlend.
Er marschierte die 3. Avenue hinunter und betrauerte im Vorbeigehen das Hinsterben der alten irischen Kneipen, darunter auch die seines Vaters. An deren Stelle gab es jetzt einen Bioladen. Jawohl, das waren unbestreitbar Veränderungen, ob es aber auch Verbesserungen waren? Darauf wusste er keine Antwort.
Carol Judd wohnte in einem vierzehnstöckigen Appartementhochhaus, in dessen marmorgetäfelter Halle es stark nach Kohl roch. Delaney meldete sich über die Haussprechanlage und wurde sogleich eingelassen. Der Fahrstuhl, der ihn in den achten Stock brachte, quietschte beängstigend.
Sollte sie in der vergangenen halben Stunde wirklich aufgeräumt haben, so musste in dem winzigen Appartement zuvor ein wahres Chaos geherrscht haben. Es sah hier aus, als sei eben erst ein Taifun durchgebraust und habe ein unentwirrbares Gemenge von Kleidern, Büchern, Schallplatten, Kassetten und einer Sammlung mechanischer japanischer Puppen hinterlassen. Die konnte man aufziehen, und dann hatte man tanzende Bären, musizierende Kaninchen und purzelbaumschlagende Clowns zur Gesellschaft.
Sie entschuldigte sich fröhlich lachend dafür, und er beruhigte sie: »Aber ich bitte Sie, da sieht man doch gleich, dass hier jemand richtig wohnt.«
»Ja. Und stellen Sie sich vor, ich habe hier mal eine Party für zwanzig Leute gegeben.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, sagte er und dachte: Die armen Nachbarn!
Nachdem Sie einen Stapel Modezeitschriften aus einem segeltuchbezogenen Stuhl entfernt hatte, nahm er behutsam darauf Platz, immer noch im Mantel, den Hut auf den Knien. Sie selbst ließ sich, ohne sich mit den Händen abzustützen, überraschend im Schneidersitz auf den Fußboden sinken, und dafür bewunderte er sie aufrichtig. Er fand sie auch aus anderen Gründen bewundernswert. Sie war groß und schlank, und die eng sitzenden Jeans schienen fast nur Beine zu umspannen. Eine Schönheit im herkömmlichen Sinne war sie nicht, doch hatte sie ein kesses, aufgewecktes Gesicht und einen Schopf blonder Locken, was ihr alles zusammengenommen einen unbestreitbaren Charme verlieh. Ihr T-Shirt war vorne mit einem Porträt von Beethoven bedruckt.
»Ich will mich möglichst kurz fassen und Sie nicht unnötig aufhalten, Miss Judd«, begann er.
»Ach was, ich habe jede Menge Zeit. Ich muss mir doch einen neuen Job suchen, und bislang habe ich noch nichts Passendes gefunden. Vorhin, als ich mit Mrs. Ellerbee telefonierte, sagte sie mir, sie hat womöglich für mich was in Aussicht bei einem Psychiater, den sie kennt. Der will eine Klinik für betuchte Alkoholiker eröffnen.«
»Wie lange waren Sie eigentlich bei Doktor Ellerbee?« fragte er.
»Fast fünf Jahre. Das war vielleicht ein Traumjob, sage ich Ihnen. Wenig Arbeit und angenehme Arbeitszeit. Überhaupt kein Druck, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Ich nehme an, Sie
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