Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook
entgegnete ich. »Das besagt die Regel.«
»Wovon redest du?«
»Es ist eine der vierzig Regeln«, erklärte ich. »Wahrer Schmutz ist innen. Alles andere lässt sich ganz einfach abwaschen. Es gibt nur eine Art von Schmutz, die nicht mit klarem Wasser entfernt werden kann, und das ist der Fleck des Hasses und des religiösen Eifers, der die Seele verseucht. Du kannst den Körper säubern, indem du enthaltsam lebst und fastest, aber dein Herz wirst du nur durch die Liebe reinigen.«
Das alles kümmerte den Hermaphroditen überhaupt nicht. »Ihr Derwische seid wirklich verrückt. Ich habe ja alle möglichen Freier hier, aber einen Derwisch? Willst du mich zum Narren halten? Wenn ich dir erlaube, hier zu bleiben, tilgt Gott mein Haus vom Boden der Erde und straft uns mit einem Fluch, weil wir einen Mann des Glaubens verführt haben.«
Ich lachte leise in mich hinein. »Woher hast du denn diese albernen Vorstellungen? Hältst du Gott für einen zornigen, launenhaften alten Mann, der uns von oben beobachtet, damit er uns mit Steinen und Fröschen bewerfen kann, sobald wir einen Fehler begehen?«
Der Bordellwirt zupfte an den Enden seines dünnen Schnurrbarts herum und warf mir einen verärgerten, beinahe hasserfüllten Blick zu.
»Keine Sorge, ich will nicht in dein Bordell«, versicherte ich ihm. »Ich habe nur deinen Rosengarten bewundert.«
»Ach, das« – der Hermaphrodit zuckte verächtlich mit den Schultern – »das hat Wüstenrose gemacht, eins meiner Mädchen.«
Er deutete auf eine junge Frau unter den vor uns sitzenden Huren. Sie hatte ein schmales Kinn und dunkle, mandelförmige, vom Kummer getrübte Augen. Sie war auf herzzerreißende Weise schön. Während ich sie betrachtete, spürte ich, dass sie ein Mensch war, in dem sich gerade ein großer Wandel vollzog.
Ich senkte die Stimme und sprach so leise, dass nur der Bordellwirt mich hören konnte. »Das ist ein gutes Mädchen. Sie wird schon bald zu einer spirituellen Reise aufbrechen und Gott suchen. Sie wird dieses Haus für immer verlassen. Wenn dieser Tag gekommen ist, darfst du sie nicht aufhalten!«
Der Hermaphrodit starrte mich entgeistert an. Dann brach es aus ihm heraus: »Was zum Teufel soll das heißen? Mir befiehlt niemand, was ich mit meinen Mädchen zu tun habe! Verschwinde, oder ich rufe Schakalkopf!«
»Wer ist das?«, fragte ich.
»Das willst du lieber nicht wissen, glaub mir«, antwortete er und zeigte mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf mich, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Als ich den Name des Fremden hörte, durchfuhr mich ein Schauder, doch ich dachte nicht weiter darüber nach. »Gut, ich gehe«, sagte ich. »Aber ich komme wieder. Sei also nicht überrascht, wenn du mich noch mal hier siehst. Ich gehöre nicht zu den Frömmlern, die ihr ganzes Leben über den Gebetsteppich gebeugt verbringen und ihre Augen und Herzen der Welt gegenüber verschließen. Die lesen den Koran nur oberflächlich. Ich aber lese ihn in den knospenden Blüten und den dahinziehenden Vögeln. Ich lese den atmenden Koran, der sich in jedem Menschen verbirgt.«
»Soll das heißen, dass du Menschen liest?« Der Hermaphrodit brach in halbherziges Lachen aus. »Was für ein Unsinn!«
»Jeder Mensch ist ein offenes Buch, jeder Einzelne von uns ein wandelnder Koran. Die Suche nach Gott wurzelt in unser aller Herzen, ganz gleich, ob Prostituierte oder Heilige. Vom Augenblick unserer Geburt an wohnt in jedem von uns die Liebe und wartet seither darauf, entdeckt zu werden. Genau darum geht es in einer der vierzig Regeln: Das ganze Universum ist in einem einzigen Menschen enthalten – in dir. Alles, was du um dich her siehst, auch das, was dir vielleicht nicht gefällt, und selbst Menschen, die du verabscheust oder hasst, ist in Abstufungen auch in dir zu finden. Deshalb sollst du auch Schaitan nicht außerhalb deiner selbst suchen. Der Teufel ist keine außergewöhnliche Macht, die von außen angreift, sondern eine sehr gewöhnliche Stimme in dir. Wenn du dich selbst gut kennenlernst und deine dunklen wie deine hellen Seiten ehrlich und unerbittlich betrachtest, erreichst du die höchste Form des Bewusstseins. Ein Mensch, der sich selbst kennt, kennt Gott.«
Der Hermaphrodit verschränkte die Arme vor der Brust, beugte sich zu mir vor und blinzelte mich bedrohlich an.
»Ein Derwisch, der den Huren predigt!«, knurrte er. »Ich warne dich! Ich werde nicht zulassen, dass du hier irgendwen mit deinen läppischen Ansichten belästigst! Bleib
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