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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Schlangenbeschwörern, zoroastrischen Magiern und griechischen Philosophen. Auf dem Sklavenmarkt sah ich Konkubinen, deren Haut weißer war als Milch, und kräftige dunkle Eunuchen, denen die Gräuel, deren Zeugen sie geworden waren, die Sprache geraubt hatte. Im Basar stieß ich auf fahrende Barbiere mit Instrumenten für den Aderlass, auf Wahrsager mit Kristallkugeln und auf Zauberer, die Feuer schluckten. Ich sah Pilger auf dem Weg nach Jerusalem und Vagabunden, die ich für bei den letzten Kreuzzügen getürmte Soldaten hielt. Ich hörte Venezianisch, Fränkisch, Sächsisch, Griechisch, Persisch, Türkisch, Kurdisch, Armenisch, Hebräisch und einige andere Sprachen, die ich nicht erkannte. Trotz der scheinbar endlosen Unterschiede strahlte jeder dieser Menschen etwas gleichermaßen Unvollkommenes aus, zeigte sich als das in Ausführung befindliche Werk, das sie alle darstellten, jeder Einzelne ein unvollendetes Meisterstück.
    Die Stadt war ein einziger Turm von Babel. Ständig bewegte sich alles, zerbrach, trat ans Licht, geschah, gedieh, löste sich auf, zerfiel und starb. Inmitten dieses Chaos blieb ich heiter und gelassen, der Welt gegenüber durch und durch gleichgültig, aber doch erfüllt von einer brennenden Liebe zu all diesen sich mühenden, leidenden Menschen. Während ich die Leute um mich herum beobachtete, fiel mir eine weitere goldene Regel ein: Es ist leicht, einen vollkommenen Gott zu lieben, makellos und unfehlbar, wie Er ist. Weit schwieriger ist es, die Mitmenschen in all ihrer Unvollkommenheit und mit allen ihren Mängeln zu lieben. Vergiss nie, dass du nur das kennen kannst, was du zu lieben vermagst. Es gibt keine Weisheit ohne Liebe. Wenn wir nicht lernen, Gottes Schöpfung zu lieben, können wir weder wirklich lieben noch Gott wirklich kennen.
    Ich schlenderte durch die engen Gassen, in denen Handwerker jeden Alters in ihren kleinen, düsteren Werkstätten schufteten. Überall sprachen die Leute über Rumi. Wie ist es wohl, so beliebt zu sein?, fragte ich mich. Welchen Einfluss hatte es auf sein Ich? Ganz mit diesen Gedanken beschäftigt ging ich in die entgegengesetzte Richtung von der Moschee, in der Rumi predigte. Nach und nach veränderte sich die Umgebung. Je weiter nördlich ich kam, umso schäbiger wurden die Häuser mit ihren eingestürzten Gartenmauern und umso derber und wilder die Kinder. Auch die Gerüche waren jetzt anders, stechender, es roch scharf nach Knoblauch. Eine Weile später bog ich in eine Straße ein, in der drei Gerüche vorherrschten: Schweiß, Parfüm und Lust. Ich hatte die Schattenseite der Stadt erreicht.
    Am Ende der steil ansteigenden Kopfsteinpflasterstraße stand ein baufälliges Haus, dessen Wände von Bambuspfosten gestützt wurden. Das Dach war mit Gras gedeckt. Vor dem Haus saßen mehrere Frauen und plauderten miteinander. Als sie mich näher kommen sahen, beäugten sie mich neugierig und mit ein wenig Belustigung. Gleich neben dem Haus befand sich ein Garten mit Rosen in allen nur denkbaren Farben und Schattierungen, denen ein wunderbarer Duft entströmte. Ich fragte mich, wer sich wohl um diesen Garten kümmerte.
    Nur wenig später erhielt ich die Antwort. Denn kaum war ich auf Höhe des Gartens angelangt, wurde die Haustür aufgestoßen, und eine Frau lief hinaus. Sie hatte Hängebacken, war groß und unglaublich dick. Wenn sie blinzelte, was sie in diesem Moment tat, verschwanden ihre Augen in Wogen aus Fett. Sie hatte einen schmalen dunklen Schnurrbart und breite Koteletten. Es dauerte ein Weilchen, bis ich begriff, dass sie zugleich Mann und Frau war.
    »Was willst du?«, fragte der Hermaphrodit misstrauisch. Seine Züge wandelten sich ohne Unterlass: Gerade hatte er noch ein weibliches Gesicht gehabt, doch schon kehrte die Flut zurück und ersetzte es durch das Gesicht eines Mannes.
    Ich stellte mich vor und fragte ihn nach seinem Namen, doch er überging meine Worte.
    »Das hier ist nichts für dich«, sagte er und fuchtelte mit den Händen vor mir herum, als wäre ich eine Fliege, die man wegscheuchen müsste.
    »Warum nicht?«
    »Siehst du nicht, dass das hier ein Bordell ist? Ihr Derwische müsst doch schwören, dass ihr euch von jeder Lust fernhaltet! Die Leute denken immer, ich würde mich hier in Sünde suhlen, dabei gebe ich meine Almosen und schließe meine Pforten im Monat Ramadan. Und jetzt rette ich dich. Bleib bloß weg von uns, das hier ist die schmutzigste Ecke der ganzen Stadt!«
    »Schmutz ist immer innen, nie außen«,

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