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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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meine Frau bist.
    In Liebe
    David
    Ella hatte es David nie gesagt, aber als sie die Karte las, hatte sie das Gefühl, einen Nachruf zu lesen. So wird man über mich schreiben, wenn ich tot bin, hatte sie gedacht. Und wenn man ehrlich war, würde man hinzufügen:
    Ella, deren ganzes Dasein sich um ihren Mann und ihre Kinder drehte, beherrschte nicht eine einzige Überlebenstechnik, um selbständig die Härten des Lebens zu meistern. Es war nicht ihre Art, alle Bedenken in den Wind zu schlagen. Für sie bedeutete es schon eine gewaltige Anstrengung, auch nur ihre gewohnte Kaffeemarke zu wechseln.
    Weshalb sich niemand, auch Ella selbst nicht, erklären konnte, warum sie im Herbst 2008 nach zwanzig Jahren Ehe die Scheidung einreichte.
    Aber es gab einen Grund: Liebe.
    Sie lebten nicht in derselben Stadt, nicht einmal auf demselben Kontinent. Die beiden trennten nicht nur viele Kilometer, sie waren auch unterschiedlich wie Tag und Nacht. Ihr Leben war so verschieden, dass es ihnen unmöglich erschien, die Gegenwart des jeweils anderen zu ertragen, geschweige denn sich ineinander zu verlieben. Aber es geschah. Und es geschah schnell, so schnell, dass Ella gar nicht dazu kam, sich das Ganze bewusst zu machen und auf der Hut zu sein – falls man vor der Liebe überhaupt auf der Hut sein kann.
    Die Liebe überfiel Ella so plötzlich und mit solch einer Wucht, als hätte jemand aus dem Nichts heraus einen Stein in den stillen Teich ihres Lebens geschleudert.

ELLA
    NORTHAMPTON, 17. MAI 2008
    B alsamisch war die Luft an diesem milden Frühlingstag, und vor dem Küchenfenster sangen die Vögel. Im Nachhinein ließ Ella die Szene so oft noch einmal Revue passieren, dass sie ihr schließlich nicht mehr wie ein Fragment aus der Vergangenheit, sondern wie ein Augenblick vorkam, der irgendwo draußen im Universum bis in alle Ewigkeit andauerte.
    Es war Samstagnachmittag, und sie hatten sich alle zu einem späten Mittagessen um den Tisch versammelt. Ellas Mann häufte sich gebratene Hähnchenschenkel, seine Leibspeise, auf den Teller. Avi spielte mit Messer und Gabel herum, als wären es Trommelstöcke, während seine Zwillingsschwester Orly auszurechnen versuchte, wie viele Bissen wovon sie essen durfte, ohne ihre Diät – 650 Kalorien pro Tag – zu vermasseln. Jeannette, die noch nicht lange aufs nahe gelegene Mount Holyoke College ging, strich gedankenverloren Frischkäse auf ihre zweite Scheibe Brot. Mit am Tisch saß Tante Esther, die kurz vorbeigeschaut hatte, um einen ihrer berühmten Marmorkuchen abzuliefern, und zum Essen geblieben war. Auch wenn ein Haufen Arbeit auf Ella wartete, wollte sie noch ein Weilchen sitzen bleiben. In letzter Zeit waren die gemeinsamen Essen selten geworden, und da war die Gelegenheit günstig, wieder einmal alle miteinander ins Gespräch zu bringen.
    »Hat Ella dir eigentlich schon die schöne Neuigkeit mitgeteilt, Esther?«, fragte David unvermittelt. »Sie hat einen tollen Job gefunden.«
    Ella war zwar diplomierte Anglistin und liebte Literatur, hatte aber in diesem Bereich nach dem College nichts mehr gemacht, außer kurze Texte für Frauenzeitschriften zu redigieren, die eine oder andere Lesegruppe zu besuchen und gelegentlich eine Buchbesprechung für ein Lokalblatt zu verfassen. Früher einmal hatte sie davon geträumt, eine prominente Literaturkritikerin zu werden, doch dann hatte das Leben eine andere Wendung genommen, sie zu einer fleißigen Hausfrau mit drei Kindern und einer endlosen Menge häuslicher Pflichten gemacht, und sie hatte sich gefügt.
    Sie beklagte sich nicht. Ihre Aufgaben als Mutter, Ehefrau, Hundeausführerin und Haushälterin nahmen sie mehr als genug in Beschlag. Da musste sie nicht auch noch die Brötchen verdienen. Ihre feministischen Freundinnen vom Smith College missbilligten ihre Entscheidung, aber sie selbst war gern Mutter und Hausfrau und dankbar dafür, dass ihr Mann und sie sich das leisten konnten. Außerdem hatte sie ihre Liebe zur Literatur nie aufgegeben und war nach wie vor eine passionierte Leserin.
    Seit ein paar Jahren jedoch begannen sich die Dinge zu ändern. Die Kinder wurden erwachsen und gaben deutlich zu verstehen, dass sie ihre Mutter nicht mehr so brauchten wie früher. Als Ella klar geworden war, dass sie jetzt mehr Freizeit hatte, aber niemanden, mit dem sie sie verbringen konnte, hatte sie erwogen, sich einen Job zu suchen. David hatte sie ermutigt, aber trotz der vielen Gespräche, die sie darüber führten, hatte sie kaum eine

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