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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Manche von euch mögen sich fragen: ›Welchen Wert sollte denn ich in meiner Beschränktheit für Gott haben?‹ Diese Frage hat sich bestimmt schon vielen hin und wieder gestellt. In der heutigen Predigt will ich einige Antworten darauf geben.«
    Die beiden Söhne Rumis saßen in der ersten Reihe – der hübsche, Sultan Walad, dem alle große Ähnlichkeit mit seiner verstorbenen Mutter nachsagten, und Aladdin, der jüngere, mit seinem lebhaften Mienenspiel, dessen Blick jedoch etwas Lauerndes hatte. Beide waren sichtlich stolz auf ihren Vater.
    »Die Kinder Adams wurden mit so großem Wissen geehrt, dass weder die Berge noch die Himmel es schultern könnten«, fuhr Rumi fort. »Deshalb steht im Koran: Wahrlich, Wir boten den Himmeln und der Erde und den Bergen Unser Zutrauen an, aber sie wollten es nicht tragen, denn es ängstigte sie. Aber der Mensch nahm es auf sich. Wem eine so ehrenhafte Stellung gegeben wurde, der sollte nicht hinter dem zurückbleiben, was Gott gewollt hat.«
    Rumi sprach die Vokale so merkwürdig aus, wie nur die Gebildeten es können. Er sprach von Gott und versicherte uns, Er sitze nicht auf einem fernen Thron im Himmel, sondern sei ganz nah bei jedem Einzelnen von uns. Noch näher zu Gott aber, sagte er, bringe uns das Leid.
    »Ständig öffnet und schließt sich eure Hand. Täte sie es nicht, wärt ihr gelähmt. Euer eigentlichstes Dasein zeigt sich an einer kleinen Bewegung des Zusammenziehens und Sich-wieder-Streckens. Beides ist so wunderbar ausgewogen und aufeinander abgestimmt wie die Flügel eines Vogels.«
    Anfangs gefiel mir, was er sagte. Mir wurde warm ums Herz, als ich ihn davon reden hörte, dass Freud und Leid so aufeinander angewiesen seien wie die Flügel eines Vogels. Doch dann breitete sich rasend schnell ein gewaltiger Groll in mir aus. Was wusste Rumi schon von Leid? Zu ihm, dem Sohn eines berühmten Mannes und Erben einer reichen, angesehenen Familie, war das Leben gut gewesen. Er hatte zwar seine erste Frau verloren, aber ich glaubte nicht, dass ihm jemals wirkliches Unglück widerfahren war. Schon als Kind nur auf Seide gebettet, aufgewachsen in einem vornehmen Haus, von den besten Lehrern unterrichtet, stets geliebt, verwöhnt, bewundert – wie konnte ausgerechnet er es wagen, vom Leid zu predigen?
    Voller Verzweiflung wurde mir bewusst, dass der Unterschied zwischen Rumi und mir nicht größer hätte sein können. Warum war Gott so ungerecht? Mir hatte Er Armut, Krankheit und Elend gegeben, während Rumi von Ihm Reichtum, Erfolg und Weisheit erhalten hatte. Mit seinem makellosen Ruf und seiner königlichen Haltung war Rumi nicht von dieser Welt, zumindest nicht von dieser Stadt. Ich musste mein Gesicht verhüllen, wenn ich vermeiden wollte, dass mein Anblick die Menschen abstieß; er dagegen glitzerte wie ein Edelstein an der Sonne. Wie wäre es ihm wohl an meiner statt ergangen? War ihm schon einmal der Gedanke gekommen, dass selbst ein so vollkommener und mit allem gesegneter Mensch wie er eines Tages stolpern und stürzen konnte? Hatte er jemals darüber nachgedacht, wie man sich als Ausgestoßener fühlte, und sei es nur für einen Tag? Wäre er immer noch der große Rumi, wenn ihm das Leben zugefallen wäre, das ich leben musste?
    Mit jeder dieser Fragen wurde mein Groll stärker und vernichtete alle Bewunderung, die ich für ihn hätte hegen können. Gereizt und verbittert stand ich auf und drängelte mich zum Ausgang durch. Einige Leute in der Menge beäugten mich neugierig und fragten sich, warum ich eine Predigt verließ, die so viele andere um jeden Preis hören wollten.

SCHAMS
    KONYA, 17. OKTOBER 1244
    B ei einer Herberge in der Stadtmitte setzte mich der Bauer schließlich ab. Der Gasthof der Zuckerverkäufer war genau die richtige Unterkunft für mich und mein Pferd. Von den vier Zimmern, die man mir zeigte, nahm ich das mit der kärglichsten Ausstattung. Sie bestand aus einer Schlafmatte mit einer modrig riechenden Decke, einer Öllampe kurz vor dem Erlöschen, einem Lehmziegel als Kopfkissen und einem guten Ausblick über die Stadt bis hin zum Fuß der umliegenden Berge.
    Nachdem ich mich dort eingerichtet hatte, durchstreifte ich die Straßen und staunte über das die Luft erfüllende Gewirr aus Religionen, Gebräuchen und Sprachen. Ich begegnete Zigeunermusikern, arabischen Reisenden, christlichen Pilgern, jüdischen Händlern, buddhistischen Priestern, fränkischen Troubadours, persischen Künstlern, chinesischen Akrobaten, indischen

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