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Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook

Titel: Die vierzig Geheimnisse der Liebe / ebook Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elif Shafak
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Ramadan lässt sich am allermeisten Geld verdienen; dann drängt es sogar die hoffnungslosesten Geizhälse, Almosen zu geben, um all ihre Sünden, die früheren und die jetzigen, wiedergutzumachen. Einmal im Jahr wenden sich die Menschen nicht von den Bettlern ab, sondern suchen geradezu nach ihnen, und je elender einer ist, umso besser. Das Bedürfnis, ihre Großmut und Mildtätigkeit zu zeigen, ist dann so groß, dass sie nicht nur darauf dringen, uns Almosen zu geben, sondern uns an diesem einen Tag fast zugetan sind in Liebe.
    Auch heute, dachte ich, könnte es ein sehr einträglicher Tag werden, denn Rumi hielt eine Freitagspredigt. Schon war die Moschee fast voll. Wer drinnen keinen Platz mehr fand, stellte sich draußen im Hof an. Dieser Nachmittag bot die Gelegenheit für Bettler und Taschendiebe. Alle waren sie da, so wie ich, verstreut in der Menge.
    Ich ließ mich gegenüber dem Eingang der Moschee unter einen Ahornbaum nieder und lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm. Die Luft war feucht und roch nach Regen; gleichzeitig duftete es süßlich von den fernen Obstgärten her. Ich stellte meine Bettelschale vor mich hin. Im Gegensatz zu vielen anderen auf der Straße muss ich nie offen um Almosen bitten. Ein Aussätziger hat es nicht nötig, zu jammern und zu flehen und Geschichten zu erfinden, um deutlich zu machen, wie elend sein Leben oder wie schlimm seine Krankheit ist. Ein kurzer Blick auf mein Gesicht drückt mehr aus als tausend Worte. Ich enthüllte also mein Gesicht und lehnte mich zurück.
    Im Verlauf der nächsten Stunde wurden einige Geldstücke in meine Schale geworfen. Nur verbeulte Kupfermünzen. Ich sehnte mich nach einer Goldmünze, in die die Sonne, ein Löwe und die Mondsichel eingeprägt waren. Seit der verstorbene Aladdin Kai Kobad die Münzgesetze gelockert hatte, galten die Münzen, die die Beys von Aleppo, die Fatimiden in Kairo und die Kalifen von Bagdad ausgaben – ganz zu schweigen vom italienischen Florin. Die Herrscher von Konya haben alle diese Geldstücke anerkannt, und so taten es auch die Bettler der Stadt.
    Zusammen mit den Münzen fielen mir auch einige welke Blätter in den Schoß. Der Ahorn warf sein rotgoldenes Laub ab, und da ein böiger Wind wehte, landeten nicht wenige seiner Blätter wie Almosen in meiner Schale. Da erkannte ich, dass der Ahorn und ich etwas gemeinsam hatten. Wenn ein Baum im Herbst sein Laub abwirft, ähnelte er einem Leprakranken, der ganz am Ende seine Gliedmaßen verliert.
    Ich war ein kahler Baum. Alles an mir zerfiel – meine Haut, meine Eingeweide, mein Gesicht. Aber für mich würde es anders als für diesen Baum keinen Frühling mit neuer Blüte geben. Was ich verlor, war für immer verloren. Wenn mich die Leute ansahen, sahen sie nicht mich, sondern das, was mir fehlte. Jedes Mal wenn sie eine Münze in meine Schale legten, taten sie es unglaublich schnell und vermieden es, mir dabei in die Augen zu sehen, als wäre mein Blick ansteckend. Für sie war ich schlimmer als ein Dieb oder Mörder. Solche Verbrecher missbilligten sie zwar, aber sie behandelten sie nicht, als wären sie unsichtbar. In mir dagegen sahen sie nur den Tod, der ihnen ins Gesicht starrte. Und das machte ihnen Angst – zu erkennen, dass der Tod so nah und so hässlich sein konnte.
    Mit einem Mal wurde die Menge im Hintergrund unruhig. Jemand schrie: »Er kommt! Er kommt!«
    Ja, es war Rumi. Er saß auf einem Pferd weiß wie Milch und trug einen eleganten, mit goldenen Blättern und kleinen Perlen bestickten bernsteingelben Kaftan. Aufrecht und stolz kam er angeritten, vornehm und weise und gefolgt von der Schar seiner Bewunderer. Er strahlte Charisma und Selbstsicherheit aus, ähnelte weniger einem Gelehrten als einem Herrscher – dem Sultan des Windes, des Feuers, des Wassers und der Erde. Selbst sein Pferd, hochgewachsen und voller Kraft, schien um die Bedeutung seines Reiters zu wissen.
    Ich nahm die Münzen aus der Schale, steckte sie ein, verhüllte meinen Kopf so, dass eine Gesichtshälfte sichtbar blieb, und betrat die Moschee. Drinnen herrschte ein solches Gedränge, dass man kaum Luft bekam, geschweige denn einen Platz zum Sitzen fand. Aber das einzig Gute am Dasein eines Aussätzigen war, dass ich auch in der größten Menschenmenge immer einen Platz bekam, weil niemand mir nah sein wollte.
    »Brüder«, sagte Rumi, und seine Stimme schwang sich in die Höhe und sank in die Tiefe. »So groß ist das Universum, dass wir uns klein, ja unbedeutend fühlen.

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