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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Umfassungsmauer abgeschlossen. Diese Mauer hat nur drei versperrbare Türen. Platz gibt es für zehntausend Menschen. Wir sind wie in einer starken Festung.«
    Dieser Vorschlag Gabriels brachte die Entscheidung. Diejenigen, die aus Verzweiflung oder tatloser Mattigkeit die Vernichtung ohne mühsame Umstände hinnehmen wollten und diejenigen, die bei allen Dingen Schwierigkeiten machten, konnten nichts mehr einwenden. Was ließen sich schließlich auch für ernste Einwendungen dagegen erheben, daß sich die Menschen des armenischen Tales in der Todesstunde ihres Volkes zusammentaten und Führer wählten, wenn diese auch so hilflos sein mochten wie die Geführten? Der Ort der Zusammenkunft war sicher und man mußte keine Angst vor Strafverschärfungen haben. Vielleicht spielte auch der Aberglaube mit, daß die Familie Bagradian Beziehungen zu den Machthabern unterhalte, die zu Gunsten der sieben Dörfer wirksam gemacht werden könnten. In abgestorbener Haltung, schleppenden Schrittes verließen die Männer den Raum, nachdem sie versprochen hatten, ihre Gemeinden unverzüglich auf die Beine zu bringen. Da Yoghonoluk ja in der Mitte der Ortschaften lag, würden in der vierten Nachmittagsstunde die letzten Nachzügler im Garten Gabriel Bagradians Effendis eintreffen. Die Muchtars wollten die Wache bei den Gartentoren selbst übernehmen, damit kein fremder Eindringling durchschlüpfte. Ter Haigasun erhob sich. Die Glocken riefen schon. Er mußte sich für den Gottesdienst bereit machen.
    Von allen Messen der christlichen Bekenntnisse dauert die armenische am längsten. Die Spanne vom Introitus bis zum letzten Kreuzeszeichen des Priesters mag gut ein und eine halbe Stunde währen. Kein Instrument, nur Schellen und Beckenschläge begleiten die Gesänge des Chors, der an ungeduldigen Sonntagen die Zeitmaße beschleunigt, um den Priester vorwärts zu treiben und das Hochamt abzukürzen. Heute gelang es ihm nicht. In tiefer Versunkenheit verweilte Ter Haigasun bei jedem der heiligen Abschnitte und Akte länger denn je. Wollte er um des Wunders einer unfaßbaren Rettung willen sein Gebet anspannen? Wollte er den Augenblick hinauszögern, da der Blitz in die ahnungslose Gemeinde schlug? Der Augenblick war nur allzufrüh da, als er den letzten Segen erteilt und die Worte gesprochen hatte: »Geht in Frieden und der Herr sei mit euch!« In den Bänken begann schon der Aufbruch zu rauschen. Ter Haigasun aber trat bis an den äußersten Rand der Altarstufen vor, breitete die Arme aus und rief:
    »Es ist geschehen, was wir gefürchtet haben!«
    Dann fuhr er mit karger ruhiger Stimme fort. Es möge sich niemand unnütz erregen und hinreißen lassen. Die Totenstille, die in diesem Augenblick herrsche, müsse in den nächsten Tagen unverändert anhalten. Jede Kopflosigkeit, alles Durcheinander, alles Weinen und Jammern helfe nicht, sondern verschlimmere die Lage nur. Einigkeit, Festigkeit, Ordnung, mit diesen Mitteln allein lasse sich das Ärgste bekämpfen. Es sei noch Zeit genug, jeden Schritt zu überlegen. Ter Haigasun lud die Gemeinde zur großen Versammlung vor dem Hause Bagradians ein. Kein erwachsener, gesunder, vollsinniger Mensch, ob Mann oder Weib, dürfe fehlen.
    In dieser Versammlung sei es Sache der sieben Gemeinden, nicht nur in ihrer Gesamtheit Beschlüsse über das künftige Verhalten zu fassen, sondern auch Führer zu wählen, die das Volk gegenüber den Behörden bis zum Äußersten vertreten. Diesmal genüge der übliche Vorgang des Handaufhebens bei Gemeindewahlen nicht. Es nehme daher jedermann einen Zettel und Schreibstift mit, damit er seine Stimme in guter Form abgeben könne.
    »Jetzt aber gehet ruhig nach Hause«, beschwor der Priester die Menge, »rottet euch nicht zusammen! Machet kein Aufsehen! Vielleicht hat man Spione ausgeschickt, die euch beobachten. Die Saptiehs dürfen nicht merken, daß ihr vorbereitet seid. Vergesset die Zettel nicht und kommt pünktlich! Nur Ruhe!«
    Der nochmaligen Mahnung hätte es gar nicht bedurft. Wie ein Volk von Toten oder vom Tode Berührten taumelten die Menschen stumm ins Tageslicht, das sie nicht wiederzuerkennen schienen.
     
    Der Mensch weiß nicht, wer er ist, ehedenn er geprüft wird. Gabriel Bagradians Lebenszeugnis bis zu diesem Tage: Sohn aus guter Familie. Im Wohlstand aufgewachsen, drüben in Europa, in Paris sein Leben in geistiger Beschaulichkeit verbringend. Längst abgelöst von Volk, Staat, jeglicher Massengemeinschaft, ein geborgener, ein abstrakter Mensch.

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