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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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er sich, allein gegen die Millionenarmeen Enver Paschas zu stehn. Wie Wahnsinn hob es ihn vom Sitz und trieb ihn durchs Zimmer:
    »Ich will nicht leben, sondern einen Wert haben!«
    Der zusammengesunkene Awakian gab noch immer nicht nach:
    »Gut! Wir werden uns eine Zeitlang verteidigen. Und dann …?«
    Gabriel brach seine leidenschaftliche Wanderung ab und setzte sich ruhig wieder an seine Arbeit:
    »Und dann werden wir binnen vierundzwanzig Stunden noch unzählige Probleme zu lösen haben. Wo kommt die Fleischbank hin, wo das Munitionsdepot, wo das Lazarett? Was für eine Art von Unterkünften soll errichtet werden? Quellen gibt es genug. Wie aber wird die Wasserversorgung am besten gehandhabt? Hier sind einige Zettel, auf denen ich eine Dienstordnung für die Waffenmannschaft schon entworfen habe. Machen Sie eine Reinschrift davon, Awakian! Wir werden sie brauchen. Ordnen Sie überhaupt all diese Notizen hier. Ich glaube nicht, daß ich viel vergessen habe. Vorläufig ist alles noch Theorie; doch ich bin überzeugt, daß sich der größere Teil verwirklichen läßt. Wir Armenier bilden uns doch immer so viel auf unsere geistige Überlegenheit ein. Damit haben wir sie aufs Blut erbittert. Nun aber wollen wir wirklich beweisen, wie sehr wir überlegen sind!«
    Awakian saß ganz erschüttert da. Mehr noch als das allgemeine Schicksal verwirrten ihn die unwiderstehlichen Kraftströme, die von Gabriel ausgingen. Keine leuchtende, aber eine glühende Substanz war um ihn gebreitet. Je weniger er sprach, je ruhiger er arbeitete, um so dichter wurde sie. Samuel Awakian stand so stark unter dieser Wirkung, daß er seine Aufmerksamkeit nicht sammeln konnte, daß er keine Worte mehr für seine Zweifel fand, daß er Gabriels Kopf immer anstarren mußte, der ungestüm in die Arbeit an der Kriegskarte vertieft war. In seiner Regungslosigkeit überhörte er sogar die Worte Bagradians, so daß dieser seinen Auftrag ungeduldig wiederholte:
    »Gehen Sie jetzt hinunter, Awakian! Sagen Sie, ich komme nicht zu Tisch. Sie sollen mir irgend etwas durch Missak heraufschicken. Ich darf keine Minute verlieren. Und dann, vor der Versammlung will ich keinen Menschen sehen, keinen, verstehn Sie, auch meine Frau nicht!«
     
    Der Zuzug des Volkes begann schon in den ersten Nachmittagsstunden. Die Muchtars bewachten, wie es verabredet war, die drei Eingänge in der Parkmauer persönlich, um jeden einzelnen Teilnehmer der Versammlung zu begutachten. Diese Vorsichtsmaßregel erwies sich aber als überflüssig, denn Ali Nassif war mit seinem Posten unauffällig, ohne von langjährigen Bekannten Abschied zu nehmen, bereits gegen Antakje aufgebrochen. Auch hatte sich weder die türkische Briefträgerfamilie, noch jemand von den muslimischen Anrainern der Dörfer heimlich den nach Yoghonoluk wandernden Scharen angeschlossen. Lange vor der angesetzten Zeit sickerten die letzten Truppen durch das Sieb. Dann wurde die große Einfahrt und die beiden Gartentüren verrammelt. Das Volk drängte sich auf dem großen Freiplatz vor der Villa zusammen. Etwa dreitausend Menschen. Am linken Flügel des Hauses dehnte sich der geräumige Wirtschaftshof, der aber auf Wunsch Ter Haigasuns durch ein paar zusammengeknüpfte Wäscheschnüre abgegrenzt und freigehalten wurde. Auf der gehobenen Rampe des Hauses hatten sich die Notabeln zusammengefunden. Die kleine Treppe, die emporführte, bot eine hinreichende Rednerkanzel. Der Gemeindeschreiber von Yoghonoluk hatte am Fuß dieser Treppe sein Tischchen aufgestellt, um die wichtigsten Beschlüsse aufzuzeichnen. Gabriel Bagradian blieb so lange wie möglich in seinem Zimmer, dessen Fenster ja der Menge abgekehrt waren. Er wollte die innere Fülle, die ihn beherrschte, nicht vorzeitig durch unverbindliches Gerede verzetteln. Er trat erst aus dem Hause, als schon Ter Haigasun nach ihm gesandt hatte. Fahle, niedergeprankte Gesichter vor ihm, nicht dreitausend, sondern ein einziges. Das hoffnungslose Gesicht der Austreibung, hier wie an hundert anderen Orten zu dieser Stunde. Die Masse stand, ohne daß es nötig war, so qualvoll zusammengepreßt, daß sie kleiner wirkte, als es ihrer Zahl entsprach. Nur weit dahinten, wo alte Bäume die Freiung abschnitten, hockten, lagen, lehnten einige, von der Menge abgelöst, als gehe sie ihr eigenes Leben nichts mehr an.
    Als Gabriel dieses Volk, das sein eigenes Volk war, überschaute, wandelte ihn ein plötzliches Entsetzen an. Sein Herz kam angstvoll aus dem Takt. Wieder einmal war

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