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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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die Wirklichkeit völlig verschieden von dem Begriff, den er sich von ihr gemacht hatte. Dies waren nicht dieselben Menschen, die er täglich in den Dörfern sah, die den Gegenstand seiner kühnen Berechnungen bildeten. Tödliche Strenge und Bitterkeit starrte ihn aus aufgerissenen Augen an. Gesichter rings wie gedörrte Früchte. Selbst die Wangen der Jugend dünkten ihn gefurcht und faltig. War er auf seinen Forschergängen in den Bauern- und Handwerkerstuben gesessen, so hatte er die Wahrheit ebensowenig gesehen wie ein Reisender, der eine Ortschaft im Wagen durchquert. Jetzt erst in dieser mächtig aufhorchenden Stunde geschah die erste Berührung zwischen dem Entwurzelten und seinem Stamm. Alles, was er in seinem Zimmer durchdacht und ausgearbeitet hatte, kam ins Schwanken. So fremd, so unheimlich war der Anblick derer, die er mit sich reißen wollte. Frauen, die noch ihr Sonntagsgewand mit seidenen Kopftüchern trugen, Münzenschmuck um den Hals und klappernde Hülsen von Armbändern an den Gelenken. Manche waren auf türkische Art gekleidet. Ihre Beine steckten in weiten Pluderhosen und über die Stirn hatten sie den Feredjeh gezogen, obgleich sie fromme Christen waren. Die Nachbarschaft brachte solche Angleichungen mit sich, besonders in den äußeren Dörfern, wie Wakef und Kebussije. Gabriel sah die Männer in ihren dunklen Entaris, auf den bartumrahmten Häuptern den Fez oder die Fellmütze. Da es warm war, hatten einige das Hemd geöffnet und zeigten die Brust. Sonderbar hell leuchtete die Haut unter den verbrannten, vogeldürren Bauernhälsen. Die weißen Prophetenköpfe blinder Bettler tauchten da und dort aus der Masse wie eine neugierige Schuldforderung an den jüngsten Tag. Ganz vorne stand Kework, der Tänzer mit der Sonnenblume. Auch der Gesichtsausdruck des Kretins glich nicht mehr einem diensteifrigen Lallen, sondern einem Vorwurf, der von dieser zu jener Welt hinüberreichte. Gabriel fuhr mit eiskalter Hand über den englischen Stoff seines Anzugs. Wie Brennesseln rührte er sich an. Und zugleich wuchs die Frage: Warum gerade ich!? Wie soll ich zu ihnen sprechen!? Was maße ich mir an? Wie eine Sonnenfinsternis fuhr die Verantwortung, die er auf sich nahm, mit Fledermausschatten über ihn hin. Ein schäbiger Gedanke: Weg von hier! Noch heute! Gleichviel wohin! Ter Haigasun begann seine ersten Worte langsam in die Masse einzuschlagen. Immer vernehmlicher hafteten sie in Gabriels Ohr. Worte und Sätzte gewannen Sinn. Die Sonnenfinsternis wich von seinem Himmel.
    Ter Haigasun stand regungslos auf der höchsten Stufe. Nur die Lippen und das Kreuz auf seiner Brust bewegten sich leicht, während er sprach. Die spitze Kapuze verdunkelte sein Wachsgesicht, aus dessen tiefen Backengruben der schwarze Bart mit den beiden grauen Strähnen drang. Die Augen, die er geschlossen hielt, bildeten zwei rätselhafte Schatten. Er sah aus, als erlebe er in dieser Stunde nicht den Beginn des Unausdenklichen, sondern habe es schon durch- und ausgekostet, und jetzt, ans Ziel gelangt, werde er sich endlich hinlegen dürfen. Obgleich das Armenische wie alle östlichen Sprachen zu Feierlichkeit und Bilderprunk verführt, redete er in knappen, beinahe trockenen Sätzen: Die Absicht der Regierung müsse genau erkannt werden. Unter den älteren Menschen hier gebe es wohl keinen, der nicht die Metzeleien der früheren Zeit verspürt habe, wenn nicht am eigenen Leib, so doch in dem Todesleiden von Anverwandten drüben in Anatolien. Dabei habe Christus mit unverdienter Huld über dem Musa Dagh gewacht. Gesegnete Jahre lang sei Frieden in den Dörfern gewesen, während zu gleicher Zeit die Volksgenossen in Adana und anderswo zu Zehntausenden abgeschlachtet wurden. Man müsse aber genau unterscheiden zwischen Massaker und Austreibung. Ersteres daure vier, fünf, schlimmstens sieben Tage. Der Tapfere finde immer Gelegenheit, sein Leben teuer zu verkaufen, Schlupfwinkel für Frauen und Kinder seien rasch vorbereitet, der Blutdurst des rasenden Militärs verrauche bald, selbst den tierischesten Saptieh ergreife nachher Ekel. Die Regierung habe diese Metzeleien zwar immer selbst veranstaltet, sich aber nie zu ihnen bekannt. Sie entstanden aus der Unordnung und gingen in der Unordnung unter. Die Unordnung sei aber noch der beste Teil dieser Schurkereien gewesen und das ärgste Schicksal der Tod. Nicht so die Austreibung! Hiebei könne sich noch derjenige beglückwünschen, der durch den Tod, auch den grausamsten, von ihr erlöst

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