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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Äußere Kanten, an die er sich stößt, gibt es nur wenig. Der ältere Bruder – ein unsichtbarer, unfühlbarer Wohltäter – sorgt als Haupt des Hauses für alle Bedürfnisse. Dann kommt, merkwürdig genug, die einzige Unterbrechung dieses nach Innen gekehrten, denkenden und empfindenden Daseins. Die Episode der Militärschule und des Krieges. Der patriotische Idealismus, der mit diesem Beschaulichen plötzlich durchgeht, ist nicht leicht verständlich. Die große politische Verbrüderung zwischen der türkischen und armenischen Jugend erklärt ihn nur unzulänglich: Es ist vielleicht noch etwas anderes im Spiel, eine geheime Unruhe, der Versuch, seinem eigenen allzugebahnten Leben zu entkommen. Während des kurzen Feldzuges aber lernt dieser Gabriel Bagradian unbekannte Fähigkeiten an sich kennen. Er ist nicht nur, wie er bisher gedacht hat, ein ausschließlich inwendigen Welten zugekehrter Mensch. Den Anforderungen an Tatkraft, Geistesgegenwart, Umsicht, Mut zeigt er sich in einem erstaunlichen Maße gewachsen, weit mehr sogar als seine orientalischen Kameraden. Er rückt schnell vor, er wird mehrfach ausgezeichnet und in den Meldungen an die Heeresleitung erwähnt. In der nachfolgenden Zeit freilich versinkt dies alles, wird zu einer beinahe unlogischen Erinnerung, da seine ursprüngliche Natur wieder zur Macht kommt, beruhigter und viel reifer als früher. Der heutige Tag aber, es ist der vierundzwanzigste Juli, macht alle Jahre dieses Lebens zu einem blassen Vorspiel.
    Am tiefsten betroffen war Samuel Awakian, als er sah, wie sich die seit Wochen zusammengetragenen Chimären eines gelangweilten Nichtstuers zu dem sinnvollen Gebilde eines großen Kriegsplanes ineinanderfügten. Sie saßen in Bagradians Arbeitszimmer, das abgesperrt war. Mochte rufen und klopfen wer wollte, es wurde nicht geöffnet. Die geheimnisvollen Striche, Kreuze, Wellenlinien auf den drei Karten, die der Student als ein verträumtes Geduldspiel belächelt hatte, entpuppten sich nun als ein scharf durchdachtes Verteidigungssystem. Der dicke blaue Strich unterhalb des Nordsattels bedeutete einen langen Schützengraben, der sich an die (braungestrichelten) Steinbarrikaden der Felsseite lehnte. Die dünnere blaue Linie dahinter bezeichnete den Reservegraben, die kleinen Rechtecke seitlich der Gräben Flankensicherungen und vorgeschobene Posten. Auch die Ziffern von zwei bis elf, die den talzugewandten Bergrand des Damlajik füllten, wurden aus leeren Nummern zu wohlerwogenen Abschnitten der Verteidigung. Ebenso bekamen die verschiedenen Aufschriften einen Sinn: Stadtmulde, Schüsselterrasse, Kommandokuppe, Beobachter I, II , III , Südbastion. Was letztere anbelangt, so war sie der größte Glücksfall des Systems. Eine Besatzung von ein paar Dutzend Leuten genügte hier, um einen beliebig starken Gegner in Schach zu halten. Frauen sogar konnten dieses Abwehrwerk leisten. Gabriels Gesicht glühte vor Eifer. Es glich dem Knabengesicht Stephans wie noch nie:
    »Ich habe alle Hoffnung der Welt« – er maß mit Stephans Zirkel Entfernungen nach – »die türkischen Soldaten kenne ich. Die besten Leute sind an den Fronten. Was sich aber an Landwehr, Saptiehs und Irregulären in den Kasernen von Antiochia herumtreibt, das ist Lumpenpack und nur zu ungefährlichen Verbrechen verwendbar.«
    Die hohe, etwas zurückweisende Stirn Samuel Awakians, der sich plötzlich in fremdartiges Kriegshandwerk versetzt sah, wurde im Gegensatz zu Gabriels Gesichtsfarbe käseblaß:
    »Es kommen bei uns bestenfalls tausend Männer in Betracht. Wie es mit Gewehren und Munition steht, weiß ich nicht. In jedem türkischen Nest liegt Militär, nicht nur in Antakje, sondern überall …«
    »Wir sind ein Volk von fünfeinhalbtausend Menschen«, fuhr ihm Bagradian in die Rede, »wir haben kein Erbarmen zu erwarten, sondern nur den langsamen Tod. Der Musa Dagh aber läßt sich nicht so leicht einschließen.«
    Awakian glotzte betäubt aus dem Fenster:
    »Werden aber diese Fünftausend dasselbe wollen wie Sie, Effendi?«
    »Wenn sie es nicht wollen, so verdienen sie den gemeinen Tod im mesopotamischen Dreck … Ich aber will gar nicht leben, ich will gar nicht gerettet werden! Ich will kämpfen! Ich will so viele Türken töten als wir Patronen haben. Und wenn es sein muß, bleib ich allein auf dem Damlajik. Unter den Deserteuren!«
    Es war nicht eigentlich Haß, sondern ein heiliger und zugleich lustiger Zorn, der aus Bagradians Augen flammte. Es schien, als freue

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