Die vierzig Tage des Musa Dagh
Hund der syrischen Dörfer kommt von Menschen nicht los. Er kann nicht zurückfinden zu sich selbst, zu Fuchs, Schakal und Wolf. Mag er auch seit unzähligen Generationen schon verwildert sein, er ist und bleibt ein entlassener Angestellter der Zivilisation. Sehnsüchtig umlauert er die menschlichen Behausungen, nicht nur um einen Knochen bettelnd, sondern um Wiederaufnahme in die Sklaverei und Einstellung in den vergessenen Dienst. Die wilden Hunde der Dörfer wußten alles. Sie hatten das Lager auf dem Damlajik schon entdeckt. Und sie wußten auch, daß ihnen dieses Lager, anders als die Dorfstraße, streng verschlossen war. Wirr und verzweifelt besprangen sie den Berg des Verbotes, knackten durchs Unterholz, raschelten im Myrten- und Arbutusgebüsch wie Schlangen. Keinem von ihnen kam der befreiende Einfall, in die moslemische Nachbarschaft auszuwandern und in Chalikhan oder Aïn Jerab seinem Knochenerwerb nachzugehen. Sie blieben an dieses ungetreue Volk gebunden, das die gemeinsame Wohnstatt verlassen hatte. Die Seele verging ihnen vor wildem Leid und doch wagte keiner sein einsilbiges Bellen hervorzustoßen, dem die kultivierte Schmiegsamkeit der Haushundsprache mit ihrem reichen Wortschatz schon längst verloren gegangen war. Die ganze Angst ihrer Seele stieg in die Augen. Gabriel sah überall im Dunkel das grüne Feuer dieser überschwenglichen Hundeaugen, die den Bannkreis nicht zu überschreiten wagten.
Der Mond war im Rücken des Musa Dagh verschwunden. Ein blasser Wind entkeimte dem Kosmos. Jetzt sind alle schon oben, dachte Gabriel, an dem vor mehr als einer Stunde die letzte Sippe vorübergezogen war. Und doch, er konnte sich aus Müdigkeit oder aus Einsamkeitsbedürfnis von seinem nächtlichen Beobachtungsposten noch immer nicht losreißen. Er wußte ja nicht, ob er in seinem ganzen Leben noch einmal mit sich selbst werde allein sein dürfen. Und hatte er nicht dieses Alleinsein stets als das größte Geschenk des Himmels geachtet? Noch eine halbe Stunde solchen außerweltlichen Friedens gestand er sich zu, dann wollte er schnell zur Nordstellung hinauf, um die Grabenarbeiten zu überwachen und vorwärtszutreiben. Er lehnte sich gegen die Eiche in seinem Rücken und rauchte. Da stieg aus der Finsternis noch ein äußerst verspäteter Nachzügler empor. Gabriel hörte klappernden Huftritt und wegabrauschende Steine. Dann sah er eine Laterne, einen Mann und einen hochbepackten Esel. Das Tier brach bei jedem Schritt unter der Last beinahe zusammen. Doch auch der Mann schleppte einen gewaltigen Sack, den er alle zwei Minuten wildkeuchend auf den Boden setzen mußte. Gabriel erkannte den Apotheker erst, als der Sack zu seinen Füßen niederplumpste. Krikors Gesicht war völlig entstellt, die gleichmütige Mandarinenmaske zu einer barbarischen Götterfratze verzerrt. Der Schweiß rann ihm über die polierten Wangen in den langen Bocksbart, der atemlos auf und niederwippte. Er schien große Schmerzen zu leiden und krümmte die Schultern vor. Gabriel Bagradian gab sich zu erkennen:
»Sie hätten den Drogensack meinen Leuten mitgeben können, statt ihre ganze Apotheke selbst zu schleppen.«
Krikor rang noch immer nach Atem. Dennoch vermochte er in seine Worte eine gewisse Verächtlichkeit zu legen:
»Dies hier hat mit der Apotheke nichts zu tun. Die habe ich schon vor vielen Stunden hinaufgeschickt.«
Gabriel Bagradian hatte längst bemerkt, daß sowohl der Esel als auch der Apotheker ausschließlich mit Büchern bepackt waren. Aus einem dunkeln Grund erregte diese Tatsache seinen Ärger und zugleich den Wunsch, Krikors ein wenig zu spotten:
»Verzeihen Sie meinen Irrtum, Apotheker! Ist das hier Ihr ganzer Proviant?«
Das Gesicht Krikors hatte sich beruhigt. Seine Augen ruhten wieder gleichmütig auf Gabriel:
»Ja, das ist mein Proviant, Bagradian, leider aber nicht mein ganzer …«
Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Er ließ sich neben Gabriel nieder und begann mit einem ungeheuren Taschentuch sich den Schweiß abzutrocknen. Die Dämmerung zwinkerte auf. Der Esel stand mit gesenktem Kopf und trübsinnigen X-Beinen auf dem Saumweg. Ein paar Minuten vergingen. Gabriel empfand Unwillen über seine grausame Spottregung von vorhin. Doch Krikors Stimme hatte ihren hohen Überlegenheitston wiedergefunden:
»Gabriel Bagradian! Ihnen sind als Pariser Gelehrten ganz andre Hilfsmittel zur Verfügung gestanden als mir, dem Apotheker von Yoghonoluk. Und doch werden einige Dinge Ihrem Wissen entgangen sein, die
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