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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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er vom Agha Rifaat Bereket zum Geschenk erhalten und im Haus zurückgelassen hatte. Ich muß sie unbedingt mitnehmen, dachte er, es wäre schade darum. Er ging noch einmal in die Villa zurück, zögerte an der Tür – man soll vor Antritt einer Reise nicht wieder zurückkehren –, lief dann mit langen Schritten über die Treppe in sein Schlafzimmer und holte die goldene und die silberne Münze aus ihrer Kassette. Er hielt die goldene gegen das Licht. In erhabener Arbeit hob sich der Armenierkopf Aschot Bagratunis ab. Auf der silbernen zog die griechische Inschrift fast unentzifferbar ohne Worteinschnitte ihren Kreis:
    »Dem Unerklärlichen in uns und über uns.«
    Gabriel steckte beide Münzen in die Tasche. Dann verließ er den Garten durch die westliche Tür der Umfassungsmauer, ohne sich nach der Villa umzusehen. Nach einigen Schritten blieb er stehen und zog seine Uhr auf, die eigensinnigerweise noch immer europäische Zeit zeigte. Die Sonne stand bereits über dem Damlajik. Gabriel Bagradian merkte sich genau die Stunde und Minute, in der das neue Leben begann.
     
    Kurz nach Sonnenuntergang war das Volk der sieben Dörfer sippen- und familienweise aufgebrochen, um schwerbeladen auf den verschiedenen, jeweils nächstgelegenen Zuwegen den Berg emporzustreben. Obgleich die Bewohner dieses Tales nicht arm waren, so besaß doch nur der kleinere Teil der Familien einen eigenen Reit- oder Packesel. Oft hielten zwei Familien ein Tier gemeinsam. An Markttagen in Suedja oder Antakje erboten sich die Besitzer eines Packesels auch die Ware der ärmeren Landsleute aufzuladen. Es war ein alter Brauch, daß einer dem andern in diesen Dingen aushalf. Einsam und abgesondert am Rande des Meers, am Rande des Islams lebend, leichtwiegende Artikel wie Seidengespinst, Holzschnitzerei und Honig ausführend, bedurften die Menschen des Musa Dagh keiner reicheren Verkehrsmittel. Die wenigen Ochsenkarren und die vorhandenen Saumtiere genügten ihnen. So kam es denn, daß in dieser Nacht die Tragesel ihren Herren nur einen geringen Teil der Lasten abnehmen konnten, hatte man doch der armen Gemeinde Pastor Nokhudians aus Brüderlichkeit hundertfünfzig der stärksten Tiere mit Sattel und Kraxen zur Verfügung gestellt. Gabriel Bagradian, der sich auf einer Böschung des Karrenweges, der zum Nordsattel emporführt, niedergelassen hatte, ließ die keuchenden, schwergebeugten Gruppen an sich vorüberziehen. Er nahm, von kurzen Schlummeranfällen manchmal hin und hergeworfen, die Parade des Elends ab.
    Ein festgeballter, unglaublich metallischer Mond stieg hinter den blaßgrauen Felsschroffen des Amanus im Nordosten auf. Er kam deutlich näher, er klebte nicht flächig am Himmelsgewölbe. Hinter ihm wurde die schwarze Raumferne immer deutlicher. Auch die Erde war für Gabriel nicht mehr der gewohnte starre Aufenthaltsort, sondern das kleine Fahrzeug im Kosmos, das sie wirklich ist. Dieser klare Kosmos dehnte sich nicht nur hinter dem plastischen Mond, sondern drang bis ins Tal herab und füllte kühl die Poren des Ruhenden. Schon hatte der Mond die Mitte des Himmels überschritten und immer noch zogen die keuchenden Sippen an Gabriel vorbei. Es war stets dasselbe Bild: An der Spitze, finster den Stock vor sich einstoßend, der Familienvater mit seinem Pack. Ein barscher Zuruf, eine klagende Antwort! Die Frauen schwankten unter Lasten, die ihre Rücken fast bis zur Erde beugten. Dabei mußten sie noch immer darauf achten, daß sich die Ziegen nicht verliefen. Und doch, dann und wann unter Sack und Pack ein muntrer Augenblitz, ein flinkes Mädchengelächter. Gabriel schrak aus einem kleinen Schlummer auf. Ein großes Kinderweinen war unten im Orte aufgegangen. Hunderte von Kindern greinten, als hätten sie in derselben Sekunde allesamt den Auszug ihrer Eltern entdeckt. Dazwischen fuhr schrilles Keifen und knurrender Unmut alter Weiber. Doch es waren nicht verlassene Kinder, sondern die Katzen von Yoghonoluk, Azir und Bitias. Die Katze hat sieben Seelen und jede Seele besitzt eine eigene Stimme. Deshalb muß man Katzen siebenmal töten, ehe sie sterben. (Sato hatte diese Weisheit längst von Nunik empfangen.) Die Wahrheit jedoch war, daß die Katzen von Yoghonoluk, Azir und Bitias der Auszug ihrer Hausherren gänzlich kalt ließ, denn nur dem Hause dienen sie mit ihren sieben Seelen und nicht dem Menschen. Vielleicht war ihr Weinen ein Freudenchor nicht mehr behinderter Liebesfreiheit. – Die Hunde aber litten wirklich. Selbst der wilde

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