Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
dem meinen bekannt sind. So dürften Sie folgenden Ausspruch des erhabenen Gregor von Nazianz nicht kennen und auch die Antwort des Heiden Tertullianus nicht, die ihm dieser gab …«
    Kein Wunder, daß Gabriel den Ausspruch Gregors von Nazianz nicht kannte, wußte doch einzig und allein der Apotheker von ihm. In seiner unverwirrbaren Art fing er von oben herab zu erzählen an, obgleich die Verwechslung des Kirchenvaters Tertullian mit einem Heiden gleichen Namens eine Entgleisung vorstellte:
    »Einmal war der erhabene Gregor von Nazianz bei dem vornehmen Heiden Tertullianus zu Tische geladen. – Fürchten Sie sich nicht, Gabriel Bagradian, es ist eine ebenso kurze wie tiefsinnige Geschichte. – Sie sprachen über die gute Ernte und über das herrliche Weizenbrot, das sie brachen. Ein Sonnenstrahl lag auf dem Tisch. Gregor von Nazianz hob sein Brot in der Hand und sagte zu Tertullian: Gastfreund, wie müssen wir Gott für sein Geheimnis danken, denn siehe dieses wohlschmeckende Brot hier ist nichts anderes als dieser gelbe Sonnenstrahl, der sich auf dem Felde in Weizen verwandelt hat. Tertullianus aber stand auf und nahm ein Werk des Dichters Virgilius aus der Bibliothek und sagte zu Gregor: Gast, wenn wir Gott schon um eines Brotes willen loben, wie erst müssen wir ihn für dieses Buch hier preisen. Denn siehe, dieses Buch ist der verwandelte Lichtstrahl einer weit höheren Sonne als dieser da, deren Strahlen man auf einem Tische sehen kann.«
    Nach einer Weile fragte Gabriel Bagradian mit trauriger Teilnahme:
    »Und Ihre ganze Bibliothek, Apotheker Krikor? Dies hier kann ja nur ein kleiner Splitter sein? Haben Sie die Bücher vergraben?«
    Krikor erhob sich starr wie ein verwundeter Held:
    »Ich habe sie nicht begraben. Bücher sterben in der Erde. Ich habe sie gelassen, wo sie sind.«
    Gabriel nahm die Laterne auf, die der Apotheker vergessen hatte. Es wurde schon heller, und Krikor konnte es nicht verbergen, daß über seine gelben, gleichmütigen Wangen die Tränen liefen. Bagradian warf sich den Büchersack des Alten über die Schulter:
    »Glauben Sie denn, Apotheker Krikor«, sagte er, »daß ich für Mausergewehre, Patronenmagazine und Schützengräben geboren bin?«
    Obgleich Krikor immer wieder Einspruch erhob, trug Gabriel Bagradian den mächtigen Sack bis zum Nordsattel.

Zweites Buch Die Kämpfe
der Schwachen
    Und die Kelter wurde draußen vor der Ortschaft getreten,
und Blut kam aus der Kelter hervor bis
an die Zügel der Pferde.
     
    Offenbarung Johannis 14,20

Erstes Kapitel Unsere Wohnung ist die Bergeshöhe
    Musa Dagh! Berg Mosis! Auf dem Gipfel des Mosisberges hatte im Morgengrauen das ganze Volk sein Lager bezogen. Die Bergeshöhe, die windige Luft, das Rauschen des Meeres, dies alles wirkte so belebend, daß die Mühen des nächtlichen Aufstiegs vergessen schienen. Man sah keine starren und müden, sondern nur erregte Gesichter. In der Stadtmulde und den benachbarten Regionen schoß alles schreiend durcheinander. Es herrschte nirgends ein Bewußtsein der wirklichen Lebenslage, sondern nur eine gereizte, streitbare Munterkeit. Wie eine Springflut überschwemmte die Sorge um die kleinen Dringlichkeiten der Minute jede Überlegung des Ganzen. Selbst Ter Haigasun, der den Holzaltar in der Mitte des Lagerplatzes bekleidete und somit das Ewige zurüstete, fuhr mit ungeduldigen Scheltworten unter die Männer, die ihm bei diesem Werke halfen.
    Gabriel hatte den von ihm zum Hauptbeobachterstand erkorenen Punkt erstiegen. Dieser lag auf einer der felsigen Gipfelkuppen des Damlajik und bot eine klare Aussicht aufs Meer, auf die Orontes-Ebene und die Bergwellen, die gegen Antiochia zu verebbten. Das Tal selbst konnte man von Kheder Beg bis Bitias einblicken. Die äußersten Dörfer waren durch Wegbiegungen der Sicht entzogen. Es gab außer diesem Hauptbeobachterstand natürlich noch zehn oder zwölf exponierte Späherposten, von denen aus die einzelnen Talabschnitte scharf ins Auge gefaßt werden konnten, hier jedoch, von Felsklippen wohlbedeckt, beherrschte man das Allgemeine in großen Zügen. Vielleicht schlug dem einsamen Gabriel Bagradian deshalb, weil er auf diesem Standpunkt der verengenden Lager-Wirre überhoben war, als einzigem die wahre Wirklichkeit jetzt so stark ans Herz: Dort im Norden, Osten, Süden, bis nach Antakje, nein, bis nach Aleppo, nein, bis Mossul und Deïr es Zor die unabwendbare Vernichtung! Millionen von Moslems, die bald nur mehr ein einziges Ziel haben würden, das freche

Weitere Kostenlose Bücher