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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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mit ihren Hausgenossen und Gonzague Maris den Weg auf den Berg schon vor Stunden angetreten. Da es ein unerträglich heißer Tag war, sehnte sie sich nach dem Schattenhauch der Bergeshöhe. Auch wollte sie nicht in das Gedränge der aufbrechenden Dorfbewohner geraten. Gabriel, der sonst das flüchtigst bewohnte Hotelzimmer mit einem leicht-sentimentalen Bedauern verließ (denn überall läßt man sich zurück wie einen geliebten Toten), blieb völlig gleichgültig und kalt. Das Haus seiner Väter, die Stätte der Kindheitserlebnisse, der Wohnort dieser letzten entscheidenden Monate sprach nicht zu ihm. Er wunderte sich über seine Gefühlsstumpfheit, aber es war so. Das einzige, worum es ihm ein wenig leid tat, waren seine Antiken, die Sammlerfreude der ersten glücklichen Wochen von Yoghonoluk. Immer wieder ging er von Apoll und Artemis zu dem schönen Mithras, die Götterköpfe mit weicher Hand berührend. Dann aber wandte er sich mit einem scharfen Ruck zur Tür des Selamliks und gab das Haus samt seinen Penaten auf, für immer. Er wollte nichts mehr sehen, sog all seine Sinne ein und trat aus dem Tor.
    Auf dem Wirtschaftshof linkerhand vom Hause spielte sich gerade eine ungewöhnliche Szene ab. Der Abschaum Yoghonoluks, der ins Berglager nicht mitziehen durfte, hatte sich hier zusammengerottet. Die Klageweiber, die prophetenhäuptigen Bettler und ein paar verwahrloste Rotznasen, die ihren Eltern durchgegangen waren, bildeten eine erregte Gruppe. Daß sich Sato, die Waise von Zeitun, unter ihnen befand, ist selbstverständlich. Die kleine Gruppe wurde von einer Persönlichkeit überragt, deren eindrucksvoller Macht sich auch Gabriel nicht entziehen konnte. Nunik, die Alte, wars, die Oberste der Heilkünstlerinnen und Beschwörungsfrauen. Das dunkle Gesicht dieses weiblichen Ahasver, dessen Anfänge sich im Grau der Vorzeit verloren, war nicht nur durch eine halbzerfressene Nase gekennzeichnet, sondern auch durch schreckliche Energie, die Nunik zur unwiderstehlichen Herrscherin ihrer Kaste erhob. Die Geschichte mit ihren hundert und mehr Jahren mochte ein platter Schwindel sein, für den sie aus Geschäftsgründen selbst sorgte, dennoch aber schien ihre zeitlose Greisengestalt für den Wert ihrer Kuren und die Heilsamkeit eines entbehrungsvollen Lebens unverwüstlich zu zeugen. Nunik hielt ein kleines schwarzes Lamm zwischen ihren stockdürren Schenkeln und schnitt dem Tier, das sich wohl verlaufen hatte, von untenher mit einem Messer die Kehle durch. Es schien ein besondrer fachgerechter Schnitt zu sein, den sie mit ruhiger Hand führte, während ihre Lippen ein blendend unversehrtes Jugendgebiß unter der greulichen Lupusnase freiließen. Dadurch entstand ein Ausdruck grinsenden Wohlbehagens, der Bagradian so empörte, daß er die Gesellschaft anfuhr:
    »Was tut ihr da, ihr niederträchtigen Diebe?«
    Einer der Propheten tastete sich vor, um Gabriel voll großer Würde zu belehren:
    »Es ist die Blutprobe, Effendi, und sie geschieht für euch.«
    Bagradian war nahe daran, sich auf das Gesindel zu stürzen:
    »Wem habt ihr das Tier gestohlen? Wißt ihr nicht, daß jeder, der sich am Gut des Volkes vergreift, erschossen oder aufgehängt wird?«
    Der Prophet überhörte mit hoheitsvoller Nachsicht diese kränkende Drohung: »Gib lieber acht, Effendi, wohin das Blut fließen wird, ob zum Berg, ob zum Haus.«
    Gabriel Bagradian sah, wie das schwarze Blut des Lämmchens, das pulsend hervorstürzte, sich auf der völlig ebenen Bodenstelle zu einer dicken Pfütze sammelte, die kreisförmig solange wuchs, bis die letzten großen Tropfen niederfielen. Dann verblieb die Lache bewegungslos, ja unentschlossen, als müsse sie erst eine geheimnisvolle Weisung abwarten. Nun wagten sich zaghaft drei kleine Zungen vor, die aber sogleich wie zurückgerufen erstarrten, bis plötzlich ein nervöses Rinnsal sich eilig schlängelnd auf das Haus zu bewegte. Der Haufen geriet in wilde Erregung:
    »Koh jem! Das Blut geht zum Haus!«
    Nunik beugte sich tief über die Lache, als könne sie aus Art und Zeitmaß der Blutbewegung mit größter Genauigkeit das Wissenswerte erfahren. Als sie den Kopf wieder hob, erkannte Gabriel, daß ihr entstelltes Gesicht keinen andern Ausdruck besaß als jenen grinsenden, der ihn empört hatte. Sonderbarerweise aber sprach sie mit einer weichen Altstimme, die gar nicht zu ihr gehörte:
    »Das Volk des Berges wird gerettet werden, Effendi.«
    Im selben Augenblick fielen Bagradian die beiden Münzen ein, die

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