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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Hagop auf seine Matte und starrte ins Dachgeäst, das den Mond durchsintern ließ wie ein feines Sieb. Er hatte noch keinen Schlaf gefunden, als lange nach Mitternacht Samuel Awakian die ganze Familie weckte. Der arme Junge sagte sogleich alles und führte Gabriel Bagradian, Kristaphor, Awakian und die andern Männer, die Gabriel zu Hilfe gekommen waren, an die Stelle, wo er Haik und Stephan verlassen hatte. Es wurde sogleich eine Streifung nach dem Flüchtling veranstaltet. Bagradian kehrte mit Kework, dem Tänzer, erst gegen Sonnenaufgang unverrichteter Dinge zurück, und wie er, so auch die anderen. Der Vorsprung der Knaben war viel zu groß. Auch hatte Haik den ihm vom Führerrat vorgeschriebenen Weg nicht gewählt, sondern sich auf seine eigene untrügliche Witterung verlassen.
     
    Während die Schwimmer, das Kap Ras el Chansir abschneidend, in ruhiger Sicherheit auf den Küstenort Arsus zuwanderten, marschierten die Knaben die ganze Nacht das mühsam unendliche Auf und Nieder des Höhenzuges entlang. Die Aufgabe Haiks lautete, auf dem gefahrlosen Gebirgsrücken solange zu verbleiben, bis das südliche Ende des Tales von Beilan erreicht sei. Habe er dann bei Kyrk-Chan die Ebene gewonnen, so möge er sich immer in der Nähe der großen Fahrstraße halten, die über Hammam nach Aleppo führt. In den abgeernteten Maisfeldern und auf der verbrannten Steppe werde er während der mondhellen Augustnächte gut vorwärts kommen und im Gefahrfalle Deckung genug finden. Angesichts der großen Stadt aber müsse er sich auf die Heerstraße wagen und auf einen der Bauernwagen springen, die mit Maiskolben oder Süßholz beladen sind. Mit Gottes Hilfe werde er so an den Militärposten der Stadtgrenze vorbeischlüpfen. Was aber auch immer geschehe, der Brief an Mr.Jackson dürfe bei ihm nicht gefunden werden. Haik setzte seinen Weggenossen von dieser Aufgabe genau in Kenntnis und malte grausam die Gefahren und Schwierigkeiten aus, die in der Ebene warteten. In den menschenlosen Bergen sei alles noch ein Kinderspiel. Nach einstündiger Wanderung etwa senkte sich der Hirtenpfad, den Haik immer unter den Füßen behielt, ohne ihn zu sehen, ins Tal hinab. Der Beauftragte machte halt und mahnte Stephan:
    »So, jetzt hast du noch Zeit umzukehren. Du kannst dich nicht verirren. Überleg es dir! Später wird es nicht mehr möglich sein.«
    Stephan machte eine ärgerliche Bewegung. Sein Herz aber war voll von Zweifeln. Die Gründe seines Aufbruchs leuchteten ihm auf einmal nicht mehr ganz ein. Haik wies in die Richtung des Damlajik, wo ein ferner rötlicher Dunst noch immer den Waldbrand bezeichnete:
    »Du wirst dort nicht mehr hinkommen und niemanden wiedersehen …«
    Der Bagradiansohn kam gar nicht dazu, seines wahren Verlangens bewußt zu werden. Er wäre lieber gestorben, ehe er Haik gegenüber sich als schwach gezeigt hätte. In verlegener Scham zog er jene Landkarte aus der Tasche, die früher im Studio seines Onkels Awetis gehangen war. Er tat so, als prüfe er im scharfen Mondlicht ernsthaft den Standort nach. Haik aber, durch diesen »eingebildeten Humbug« erbost, schlug ihm die Karte aus der Hand und verschwendete keinen guten Rat mehr an ihn. Daraufhin beschloß Stephan dem Hochmütigen zu beweisen, daß er ihm an Marschtüchtigkeit überlegen sei. Er verfiel in eine wild ausgreifende Gangart und spannte alle Muskeln an, um den Gefährten in körperliche Bedrängnis zu bringen. Dieser aber dachte nicht daran, sich von Stephan ein blödsinniges Tempo aufzwingen zu lassen. Gleichmäßig und beinahe gravitätisch schritt er seines Weges. Stephan sah sich zu seinem Schrecken plötzlich allein. Anstatt dem anderen seine Überlegenheit zu beweisen, hatte er den Weg verloren und wäre aus eigener Kraft, so spürte er, dieser Wildnis nicht entkommen. Sein Herz klopfte, doch er wagte es nicht, zu rufen. Als dann nach endlosen Minuten Haiks Gestalt aus einem Buschwall in den Mond tauchte, ohne sich um den Selbständigen zu scheren, da ließ er sich seine beschämende Erfahrung nicht anmerken und schloß sich schweigend dem Stärkeren an. Damit war der Kampf um den Vorrang zwischen diesen beiden für alle Zeiten entschieden. Sie gelangten rasch in das schmale Tal. Rechter Hand von ihnen dehnte sich die große Ortschaft Sanderan. Gott sei Dank, kein Licht brannte dort. Nur eine einsame Menschenstimme näselte eine gepreßte Weise. Es war ein schauriges Gefühl, sich an einer bewohnten Stätte, die den Tod barg, vorbeizudrücken. Die

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