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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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schmale Buchenstämme, die keine Deckung boten. Sanft stieg der Berg an. Wohin? Vor Haiks innerem Auge beugte sich der eine der Saptiehs vor, legte die Hand über die Augen, spähte scharf, stieß einen Gurgelruf aus und nahm mit der ganzen Mannschaft die Verfolgung auf. Und es war kein Schrecktraum nur. Stimmen! Das Laub raschelte unter den Schritten der Türken. Stephan schloß die Augen und preßte sich eng an Haik. Dieser umfaßte ihn mit dem linken Arm. In der Rechten hielt er das aufgeklappte Dolchmesser. Todesbereitschaft. Doch was so scharf heranflüsterte, das waren keine türkischen Worte:
    »Jungens, Jungens! Wo seid ihr? Fürchtet euch nicht!«
    Geisterhaft kamen diese armenischen Laute. Als Stephan die Augen aufriß, sah er zwischen den Stämmen einen zerlumpten Armierungssoldaten atemlos auftauchen. Ein struppiger Totenkopf mit riesigen Augen. Bis auf diese jammernden Augen glich er beinahe Sarkis Kilikian. Haik faßte sich und steckte das Messer ein. Die Stimme des Straßenarbeiters zitterte vor Aufregung:
    »Bist du nicht der Sohn der großen Schuschik, die auf dem Wege nach Yoghonoluk ihr Haus hat? Erkennst du mich nicht?«
    Haik ging ungläubig auf das elende Gerippe zu, dem die Fetzen um die Glieder schlotterten und das zu alldem noch barfuß war. Sein Blick glitt aufmerksam an dem Menschen herab: »Vahan Melikentz aus Azir«, sagte er zögernd, als greife er aufs Geratewohl einen Namen heraus. Der Arbeitssoldat nickte lebhaft und Tränen rannen ihm in den Stoppelbart, so sehr erschütterte ihn die Begegnung mit den jugendlichen Landsleuten. Haik hatte den Namen nur erraten. Was hatte dieser Zerlumpte mit dem eigentlichen Melikentz zu schaffen, dem stattlich prahlerischen Raupenzüchter, dem er täglich begegnet war? Melikentz aber hob verzweifelt die Hände:
    »Seid ihr wahnsinnig? Was habt ihr hier zu suchen? Dankt es Christus, dem Erlöser, daß euch der Onbaschi nicht gesehen hat. Gestern haben sie dort unten an der Biegung fünf Armenier erschossen, eine Familie, die nach Alexandrette wollte.«
    Haik, wieder völlig Herr seiner selbst, setzte dem ehemaligen Raupenzüchter mit gemessener Würde die Mission auseinander, die er vom Führerrat auf dem Musa Dagh empfangen hatte. Melikentz entsetzte sich:
    »Die Straße ist bis Hammam voll Inschaat Taburi. Und in Hammam sind gestern zwei Kompagnien angekommen, die gegen den Damlajik geschickt werden sollen. Ihr könnt nur in der Nacht an den Sümpfen von Ak Denis vorbeigehen. Aber da werdet ihr hineinfallen.«
    »Wir werden nicht hineinfallen, Melikentz«, erklärte Haik mit lakonischer Zuversicht, und dann forderte er den Landsmann auf, ihm den kürzesten Weg in die Ebene zu zeigen. Vahan Melikentz jammerte:
    »Wenn sie mich vermissen, wenn ich zu spät einrücke, bekomme ich die Bastonade dritten Grades. Vielleicht erschießen sie mich auch … Mögen sie mich erschießen! Ihr wißt nicht, Jungens, wie sehr ich darauf spucke. Oh, wäre ich doch mit den Eurigen auf den Musa Dagh gegangen und nicht mit Nokhudian, dem Pastor! Die Eurigen waren gescheit. Christus helfe ihnen! Uns hat er nicht geholfen.«
    Vahan Melikentz riskierte wahrhaftig den Tod, um die Jungen auf den Weg zu bringen. Es war übrigens nur eine kurze und ziemlich bequeme Waldstrecke, die sie zu überwinden hatten. Der arme Raupenzüchter redete unausgesetzt, als wollte er eine ganze Ernte verlorener Worte nachholen oder kurz vor seinem Ende noch verschwenden. Er schien weniger Interesse für die Vorgänge auf dem Musa Dagh zu hegen als den Drang zu empfinden, sein eigenes Schicksal darzustellen. Haik und Stephan erfuhren auf diese Weise einiges davon, was sich mit der Nokhudiangruppe zugetragen hatte. In Antakje waren alle kräftigen Männer ausgesondert und nach Hammam zum Straßenbau geschickt worden. Die Frauen, Kinder, Alten und Kranken mußten euphratwärts wandern. Pastor Nokhudian konnte beim Kaimakam nicht das geringste erreichen. Mit den armenischen Inschaat Taburi aber hatte es eine ganz besondere Bewandtnis. Jede Abteilung bekam ein bestimmtes Straßenstück zugewiesen, das dann und dann fertig sein mußte. Meldete der Onbaschi die Vollendung dieses Pensums, so wurde die Abteilung zusammengetrommelt, in die nächste Waldung geführt und dort von einer eigenen in dieser Kunst schon höchst routinierten Truppe mit Schnellfeuer umgelegt:
    »Unser Straßenstück«, berechnete Melikentz nüchtern, »reicht bis nach Top Boghazi, das sind noch viertausend Schritt. Alles in

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