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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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wilden Hunde von Sanderan aber ließen sich nicht täuschen und verfolgten die beiden Armenierjungen weit hinaus über die Bannmeile. Mit unheimlicher Sicherheit fand Haik neuerdings einen Hirtensteig, der nordöstlich ins Gebirge führte. Als sie wieder durch einen dünnen Laubwald gingen, der sich mit dem Mondlicht vollgesogen hatte, überkam Stephan die trunkene Abenteuerfrische der Nacht. Er vergaß alles. Am liebsten hätte er gesungen und gejauchzt. Müdigkeit? Gab es das? Nach Sonnenaufgang hatten sie trotz mehreren Rasten einen Weg von beinahe zehn Meilen zurückgelegt und den Punkt erreicht, wo sich die Gebirge gegen Norden zu in breiten waldigen Terrassen herabsenken. Stephan wäre samt seiner Karte im Leeren gestanden. Haik aber wies scharf in eine bestimmte Richtung:
    »Dort müssen wir hin. Beilan!«
    Er hatte alles im Gefühl, obgleich er nur ein einziges Mal mit seiner Mutter nach Beilan und Alexandrette gereist, das heißt auf einem Esel geritten war, und zwar auf einem ganz anderen Wege, der Küste entlang. Nun aber meinte er zufrieden, man werde jetzt einen Schlafplatz suchen, eine Mahlzeit halten und sich bis Mittag ausruhen. Der kurze Schlaf müsse ihnen genügen, anders sei es nicht zu machen. Haik brauchte nicht lange herumzuschnuppern, um nicht nur einen schattigen Platz mit gutem Grasboden, sondern auch eine Quelle zu finden. Letzteres war freilich im wasserreichen Umkreis des Musa Dagh keine Zauberei. Für Haik, der mit seiner Haut auf die verborgenen Eigenheiten jedes Bodenflecks, auf die geringsten Wärmeunterschiede, auf Vegetationsunterschiede und Tier-Nähen unfehlbar reagierte, bedeutete es eine lächerliche Kleinigkeit, Wasser zu entdecken. Die Jungen lagerten sich an dem Quellauf, der hier sogar einen kleinen erwünschten Tümpel bildete. Zuerst stillten sie ihren Durst. Sodann aber zog das Kulturkind zu Haiks Erstaunen ein Stück Seife aus dem Rucksack und begann sich zu reinigen. Haik betrachtete diese überflüssige Tätigkeit mit sarkastischem Ernst. Als Stephan fertig war, steckte er seine Füße wohlig in den kalten Tümpel, denn die Füße waren ja das Wichtigste. Nachher teilten sie mit knabenhafter Lust am Tauschhandel ihre Lebensmittel. Witwe Schuschik hatte ihrem Sohn aus kleingehacktem Hammelfleisch, Fett und Zwiebelstücken drei große Würste zubereitet und ihm überdies ein steinhartes Brot mitgegeben, das sie sich weiß Gott woher verschafft hatte. Das Verbergen von Brot, Teigware und Feldfrucht galt auf dem Damlajik als großes Verbrechen, das mit mehrtägigem Portionsentzug bestraft wurde. Dennoch aber tauchten in den Hütten insgeheim derartige Schätze immer wieder auf, deren Herkunft ein unlösbares Rätsel blieb. Es ist stets die alte Geschichte. Keine gesetzmäßige Rationierung, auch die gewaltsamste nicht, kann den schöpferischen Lebensstrom völlig hemmen, der sich das Unglaubliche aus dem Nichts holt.
    Es könnte beinahe für sinnbildlich gelten, daß Stephan als Gegengabe für Hammelwurst und Fladenbrot französische Ölsardinen und Schweizer Schokolade anzubieten hatte, fremdartige Delikatessen also, die Haik kaum dem Namen nach kannte. Die Knaben beherrschten sich nicht, sondern aßen reichlich von den Vorräten, ohne an die nächsten Tage zu denken. Haik aber besann sich plötzlich, packte das Seinige weg und gab Stephan den Rat:
    »Trink lieber Wasser und spar das Essen!«
    So geschah es auch. Sie tranken aus dem Aluminiumbecher der Thermosflasche das Quellwasser in großen Mengen, dem Stephan seinen Wein beimischte. Er fühlte sich so wohl, als befände er sich auf einer lustigen Ferienwanderung und nicht mit einem anderen Armenier-Sohn auf diesem todumdrohten Botengang mitten in die erbarmungslose Hauptstadt, zu dem er nicht einmal Recht und Beruf hatte. Alles Schmerzliche schien endgültig auf dem Damlajik zurückgeblieben zu sein. Welch ein innig-zappliges Vergnügen war es doch, nach einer durchwanderten Nacht als Mensch in dieser harmlos guten Morgenwelt zu leben. Stephan schob die zusammengefaltete Decke unter seinen Kopf. Immer wärmer flutete die Frühe. Noch einmal hob er sich auf und lallte kindisch:
    »Werden keine wilden Tiere kommen?«
    Haik legte gewichtig sein breites Dolchmesser neben sich:
    »Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn ich auch schlafe, so seh ich doch alles.«
    Stephan hatte keine Angst. Welch ein guter Wächter war Haik, selbst wenn er schlief! Niemals noch hatte er zu einem menschlichen Wesen anschmiegsameres Vertrauen

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