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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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und Aram Tomasian beschenkten den Läufer auch mit einer Geldsumme, damit er sich unter Umständen vom Tode loskaufen könne. Dann ließen sie Mutter und Sohn allein. Witwe Schuschik aber streichelte mit ihren schweren Händen nur flüchtig verlegen Haiks Kopf und folgte unverzüglich den Priestern. Stephan aber bemerkte, daß sie sich nicht unter das Volk mischte, das schon in breitem Haufen nach Hause strömte, sondern mit unentschlossenem Schritt auf die Felsbarrikaden zuging.
    Es war das erstemal, daß Gabriel Bagradian eine ganze Nacht nicht unter den Verteidigern der Nordstellung verbrachte. Der Führerrat hatte für diese Nacht Tschausch Nurhan Elleon mit dem Oberbefehl betraut. Ein türkischer Angriff lag glücklicherweise so gut wie außerhalb aller Möglichkeiten. Die Truppen hatten zwar das Quartier in den Ortschaften noch nicht verlassen. Da aber der verwundete Jüs-Baschi von seinem Krankenbett in der Villa Bagradian keine neuen Befehle erließ, so benützte der Rest der aufgeriebenen Kompagnien diese Tage zur müßigen Erholung. Die Beobachter meldeten keinerlei bedrohliche Bewegung, sondern nur friedliches Soldatenleben auf den Dorfwegen zwischen Wakef und Kebussije. Die Zehnerschaften und das Lagervolk waren sicherer denn je. Die brennende Brustseite des Damlajik beschützte sie. Manchmal wetterleuchtete und blitzte es von der großen Lohe taghell herüber. Dann hatte es den Anschein, als wollte sich der Brand bis hierher zum Nordsattel ausbreiten. In Wirklichkeit aber war er schon längst auf einen unüberwindlichen Damm gestoßen, auf die vorspringende Felsnase oberhalb von Bitias mit ihren beiden Geröllbändern. Das Gefühl ungefährdeter Sicherheit beherrschte nicht nur die Besatzung, sondern auch Nurhan, der mit einigen älteren Leuten Karten spielte. Alles ließ sich gehen. Es roch fast nach der Deserteurwirtschaft auf der Südbastion. Jeden Augenblick verließ eine der Wachen den Posten, um sich an der Unterhaltung der Kameraden zu beteiligen. Der Befehlshaber, mit dem sich sonst doch nicht spaßen ließ, duldete es sogar, daß die Kämpfer eines der strengsten Verbote überschritten und mehrere Reisigfeuer anzündeten. Sichtbar fehlte Bagradians Person, jene Mischung aus geistigem Vorrang, Unnahbarkeit und verständnisvoller Milde, die überall Plan und Ordnung schuf. Der Unterschied war eben der, daß man sich in Gabriels Gegenwart nicht gehen ließ.
    Der Stimmenlärm und die frisch entzündeten Reisigfeuer ermöglichten es Stephan, die jenseitige Berglehne rasch zu erklimmen, ohne gesehen und angerufen zu werden. Er wollte sich beeilen, denn Haik hatte gewiß schon einen weiten Vorsprung gewonnen. Der Bagradiansohn lief, so schnell er konnte. Der Rucksack, den er geschultert hatte, war nicht gerade schwer: fünf Sardinenbüchsen, einige Tafeln Schokolade, ein paar Biskuits, ein wenig Wäsche. Die von Papa im Zelt vergessene Thermosflasche hatte er sich von Kristaphor mit Wein füllen lassen. Dies und noch eine Decke war die ganze Ausrüstung, wenn man von dem Kodakapparat absieht. Von diesem Weihnachtsgeschenk des letzten Pariser Jahres konnte sich Stephan nicht trennen, obgleich er keine Filmrolle mehr besaß. Es war die reinste Kinderei. Hingegen hatte er die Absicht, ein Gewehr von den Pyramiden zu rauben, wieder aufgegeben, da auch Haik keine Waffe bei sich trug. In wenigen Minuten war die Gegenhöhe des Sattels erreicht. Vor dem Knaben erstreckte sich die lange breite Lichtung, über die – oh, wie lange war jene Nacht schon dahin – die türkischen Haubitzen mit wildem Getümmel und Gerassel auf den Damlajik geschleppt worden waren. Er setzte schon zum Laufen an, um in der langen Rinne Haik einzuholen, ehe dieser im Weglosen verschwunden sein mochte. Angst packte ihn, ob es überhaupt noch möglich sei, den Boten zu erreichen. Doch Stephan hatte den ersten Sprung noch nicht getan, als ihn, keine zehn Schritte entfernt, ein starres Bild bannte und hinter den nächsten Busch zwang.
    Steif im abnehmenden Mond, der durch keine Rauchwehe mehr zerlöst war, saß die Witwe Schuschik aufrecht. Die langen Beine der Kaukasierin in den ausgebreiteten Röcken bedeckten mitsamt ihrem mondgroßen Schatten ein gutes Erdstück des Musa Dagh. Haik aber, der Sohn, selbst knochig und groß, hatte sich in die Mutter eingewühlt wie ein Säugling. Er saß ihr halb und halb auf dem Schoß und hielt den Kopf an ihre Brust gepreßt. In dem marmornen Licht hätte man glauben können, die Frau habe ihre

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