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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Spitzenkissen unterm Kopf, von dem sie sich nimmermehr erheben wollte. Sie hatte mit sich eine Art Einmauerung bei lebendigem Leibe vor. Und als es um ihr verpupptes Ich ganz schwarz und traulich ward, da fühlte sie sich fröstelnd wohl, da lebte sie nicht auf dem Musa Dagh, da hatte sie kein Kind verloren und keine Türken drangen näher, um sie zu töten. Der Innenraum des Zeltes war in zauberhafter Weise der Innenraum von Juliettens Selbst, jenseits dessen es nur das unbestimmte Gerücht einer gefährlichen Außenwelt gab. Ihre Vernunft war noch lange nicht bei sich, während ihr Wesen in einem unvorstellbaren Maße bei sich war.
    Gegen Morgen begann der kleine Gong am Zeltvorhang wild zu mahnen. Juliette rührte sich nicht. Auch als sie Awakians bittende, fordernde Stimme erkannte, gab sie keine Antwort. Dann dröhnten die Haubitzen und der Schreckschuß des ›Guichen‹ donnerte auf. Bei ihr aber war es noch immer Nacht und sie kroch noch tiefer unter die Decke, damit sie nichts in ihrem Grabe störe. Die Angst um ihre dunkle Einmauerung war stärker als jeder Furcht-Instinkt. Ihr krankes Gedächtnis vergaß sofort die drohenden Donnerschläge. Sie spann sich immer tiefer ein, damit sie die Stimmen nicht höre. Diese aber drängten unablässig. Und nun wogten auch die Zeltwände, an denen wild gerüttelt wurde. Waren die Türken da? Zu Awakians gesellte sich Kristaphors Stimme:
    »Madame, bitte aufmachen! Sofort aufmachen, Madame!«
    Immer erregter wallten die Zeltblätter. Juliette hob nicht einmal den Kopf. Nun erkannte sie auch Mairik Antaram:
    »Gib doch Antwort, Seelchen, um Christi willen! Ein großes, großes Glück ist gekommen …«
    Juliette drehte sich zur Seite. Was nennen diese Armenier Glück? Mag sich Gabriel selbst herbemühn, ich bleibe bei mir, ich lasse mich nicht weglocken. Wer ist übrigens Gabriel Bagradian? Heiße ich etwa auch Bagradian? Juliette Bagradian? Endlich zerschnitt draußen jemand die Schnüre und öffnete hastig ihre schwanke Gruft. Sie aber drehte den Eintretenden den Rücken zu, um zu beweisen, daß sie allein in ihrer eignen Welt war, wenn sie es nur wollte. Awakian und Antaram Altouni berichteten mit fremden, hochgeschraubten Stimmen irgend etwas von einem französischen Kriegsschiff namens ›Guichen‹. Juliette spielte die Benommene, hörte dabei aber scharf hin und stellte sofort mit dem Mißtrauen aller Verstörten fest: eine Falle! Hatte sie Doktor Altouni nicht schon gestern abend zwingen wollen, dieses geliebte Zelt, ihren allereigensten Raum, zu verlassen, um bei den anderen zu wohnen, diesen schmutzigen Tieren, vor denen sie erschauderte und die sie haßten? Gewiß, diese plumpe List war von Gabriel und Iskuhi gemeinsam ausgeheckt worden. Das Französische sollte sie verlocken, damit sie ihnen dann völlig und ohne Zuflucht ausgeliefert sei. Aber so leicht ließ sich Juliette nicht übervorteilen. Und aus diesem engelsguten Futteral, in dem sie keine Wahrheit wissen mußte, nein, aus diesem süßen Futteral würden sie ihre Feinde nicht herausreißen. Juliette ließ Awakian, Antaram und Kristaphor bitten und betteln und war wieder einmal nicht bei Besinnung. Als sich alle Versuche als vergeblich erwiesen, winkte die alte Frau:
    »Laßt sie! Wir haben noch Zeit genug.« Awakian und Kristaphor aber schleppten die mißhandelten Gepäckstücke treulich vors Zelt und begannen, alles, was nicht geraubt, zerfetzt und zerschlagen war, eilig einzuräumen. Mitten in der Arbeit aber wurden sie von Gabriel berufen.
    Und es geschah noch im Laufe des frühen Vormittags, daß der Zeltvorhang wiederum zurückgeschlagen wurde, und daß, von Mairik Antaram geführt, zwei Männer eintraten. Dies aber waren zwei junge Burschen in blauen Uniformen mit blanken Knöpfen und Rote-Kreuz-Binden um den linken Arm. Juliette, die starr auf dem Rücken lag, sah zwei milchhelle Gesichter mit frischen, lustigen Augen. Ein süßer Schreck vor dem Unsagbar-Verwandten durchfuhr sie. Der kleinere dieser jungen Männer salutierte stramm und seine Bruderstimme ertönte in den Lauten der verlorenen Welt:
    »Bitte die Störung zu entschuldigen, Madame! Wir sind die Sanitätsgehilfen vom ›Guichen‹. Der Herr Chefarzt hat befohlen, auch Madame hinunterzutragen. Wir kommen später wieder. Madame wird dann die Güte haben und fertig sein.«
    Der Kleine straffte sich hoch und fuhr mit der Hand an die Matrosenmütze, während der andre mit schwerem, verlegenem Schritt tiefer ins Zelt trat und eine

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