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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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aber keine Einzelheit, sondern nur einen gespenstischen Hauch von Resignation in sich zurückbehalten. Sie war gekommen, um ihn an das Versprechen zu erinnern, um bei ihm zu sein in der letzten Entscheidung. Er aber hatte sie von sich gewiesen, fortgeschickt, zu Juliette. Das war doch selbstverständlich; wenn er sich jetzt prüfte, hatte er selbst nach dem gestrigen Unglück noch den Glauben an die Rettung nicht verloren gehabt. Iskuhi sollte in Sicherheit sein. War das nicht sein Gedanke gewesen? Iskuhi aber wollte etwas, was er ihr nicht geben konnte, einen entschlossenen seligen Glauben an den Untergang. In diesem Glaubensmut hatte er sie enttäuschen müssen. Wo war Iskuhi nun? Gabriel hätte nicht sagen können warum, aber seine Seele war von der Überzeugung erfüllt, daß Iskuhi nicht mehr lebte, daß Iskuhi in der Nacht noch den Tod gesucht hatte, daß Iskuhi vom Damlajik verschwunden war und alle Nachforschungen keinen Erfolg haben würden. Dennoch erhob er sich jetzt aus seiner erstarrten Hoffnungslosigkeit, um alle notwendigen Anordnungen zu treffen.
    Gabriel Bagradian war im Irrtum. Iskuhi lebte. Während er seine Pfeife an die Lippen setzte, um irgendwelche Helfer herbeizurufen, hatte sie Kework, der Tänzer, schon gefunden. Spät genug! Dies war nur damit zu erklären, daß Iskuhi in der Nacht den ausgetretenen Pfad verloren hatte und in eine kleine Schlucht, oder besser in eine leichte, wildbewachsene Grube gestürzt war. Diese Grube lag freilich abseits von den gewohnten Wegen, in dem zerklüfteten Gelände, das zur Schüsselterrasse führt. Was sie zwischen Mitternacht und Morgen in dieser unseligen Gegend gesucht hatte, darauf erhielt niemand eine Antwort. Bis auf ein paar Kratzer an Armen und Beinen war dem Mädchen nichts geschehen. Keine Wunde, kein Knochenbruch, keine Erschütterung, ja nicht einmal eine Sehnenzerrung. Und doch, der Sturz in der Finsternis hatte den tödlichen Schwächezustand Iskuhis, gegen den sie sich soviele Tage schon wehrte und den sie doch selbst förderte, endlich zum Durchbruch gebracht. Als sie Kework auf seinen, ganz andre Lasten gewohnten, Armen herbeitrug, war sie bei voller Besinnung, hatte riesige, fast heitere Augen, konnte aber nicht sprechen. Zum Glück befand sich bei den Sanitätsleuten, die noch die letzten Kranken zu transportieren hatten, ein junger Hilfsarzt vom ›Guichen‹. Er verabreichte Iskuhi ein starkes Herzmittel, bestand aber darauf, daß die Entkräftete so schnell wie möglich an Bord gebracht werde, um das Schlimmste abzuwenden. Ohne Verzug und ohne viel Worte wurden Pastor Tomasian und Iskuhi auf die Tragbahren geschnallt. Gabriel hatte kaum Zeit, Kristaphor den Auftrag zu geben, alle drei Zelte, sobald das Gepäck fortgeschafft sei, mit ihrem ganzen Inhalt sofort niederzubrennen.
     
    Gabriel hielt sich dicht an Iskuhi, so oft dies nur möglich war. Der enge Steig freilich bot kaum Platz für einen Mann, und an jenen Stellen, wo die nackten Felswände sich rechter Hand öffneten, hatten die Träger alle Mühe, mit ihren Lasten heil vorüberzukommen. Voran schwankte die Bahre mit dem verwundeten Pastor. Dann folgte Iskuhi, in deren Nähe auch der Hilfsarzt ging. Damit aber war der Zug nicht abgeschlossen, da hinten noch drei Beinverletzte der Schlacht vom dreiundzwanzigsten August und eine Wöchnerin getragen wurden. Überdies lief ein Schwarm von Nachzüglern mit, Krieger aus den Zehnerschaften, die im Brandschutt ihrer Familienhütten nach verschonten Habseligkeiten gescharrt hatten. Die Träger hielten drei- oder viermal auf breiten Bergstufen Rast. Dann neigte sich Gabriel zu Iskuhi hinab. Doch auch er konnte kaum sprechen. Denn zwei Schritte voraus lag Aram Tomasian. Und der Arzt kam jeden Augenblick, um dem Mädchen einen Schluck Milch einzuflößen und den Puls zu fühlen. Gabriel sprach mit leiser Stimme halbe Sätze:
    »Wohin wolltest du, Iskuhi … Was hast du vorgehabt … Dort …«
    Ihre Augen antworteten:
    »Warum fragst du mich, was ich nicht weiß … Es war ein Schweben … Wir haben nur wenig Zeit mehr, weniger als in der Nacht …«
    Er kniete neben sie hin und schob die Hand unter ihren Kopf, als wolle er sie damit zum Sprechen bringen. Dabei waren seine eigenen Worte kaum vernehmbar:
    »Hast du Schmerzen?«
    Ihre Augen verstanden sofort und erwiderten:
    »Nein! Ich spüre meinen Körper gar nicht. Aber ich leide sehr, daß es so gekommen ist, wie es kam. Wäre es ohne diese Schiffe nicht besser gewesen? Nun ist

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