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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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zumal in Gesellschaft armenischer Frauen. Da der Pastor die Freiheit der Wahl an die Missions-Väter abgetreten hatte, so fügte er sich ihnen auch, was den Reiseplan betraf. Anstatt der kurzen Eisenbahnfahrt lag ein beschwerlich endloser Weg von vielen Tagen vor ihnen. Ins Gebirge nach Aïntab zuerst, und dann über die gewundene elende Paßstraße des Taurus nach Aleppo hinab. Die Missions-Väter stellten dem Pastor einen großen zweispännigen Wagen zur Verfügung und außerdem ein Reservepferd, das auch als Reitpferd verwendet werden konnte. Zugleich telegraphierten sie nach Aïntab an ihre Vertreter, damit dort ein neues Gespann bereit gehalten werde.
    Die Reisenden hatten die Vorstadt von Marasch noch nicht verlassen, als ein Keuchen und flehentliches Geschrei den Hufschlag übertönte. Das Waisenmädchen Sato und der Hausknecht Kework rannten jammernd hinter ihnen drein. Zum Glück war es früher Morgen und noch niemand auf der Straße, um diese Szene zu verraten. So unangenehm es auch werden konnte, dem Pastor blieb nichts anderes übrig, als die unerwünschten Zuzügler in seine Gesellschaft aufzunehmen. Beide waren abnormale Fälle. Die kleine ausgemergelte Sato hatte als schwer-erziehbar und als Kreuz der Waisenanstalt von Zeitun gegolten. Alle Vierteljahre einmal kamen über Sato Anfälle von Vagabundiersucht. Sie verschwand dann und blieb mehrere Tage aus, um in halb tierischem Zustand, verdreckt und verlaust, sehr kleinlaut wiederzukehren. Zur Zeit dieser Anfälle war mit ihr nichts anzufangen. Sie verlor die Fähigkeit des geordneten Sprechens und alle sonstigen mühsam anerzogenen Errungenschaften. Auch nützte es gar nichts, sie einzusperren. Wie ein Gespenst entkam sie durch die Wände. Gelang es ihr aber nicht durchzubrennen, dann wurde Sato zum Satan und setzte das ganze Haus durch ihre geniale Erfindungskraft an Bosheit und Schadengier in Schrecken. Erst Iskuhis Einflußnahme hatte dieses Übel gemildert, vielleicht sogar aufgehoben, und zwar nicht etwa durch eine besondere Erziehungsleistung. Von Pädagogik verstand Iskuhi sehr wenig. Die Kleine aber hatte zu dem jungen Mädchen eine verzehrende Liebe gefaßt. Diese Liebe richtete in dem krankhaften Hirn Satos schwere Verwirrungen der Eifersucht an und schien sogar die Kraft zu haben, das allergefährlichste Gefühl zu erzeugen, Selbstverachtung. In ihrem weiten Kittel heranflatternd, schrie Sato unausgesetzt:
    »Kütschük Hanum! Fräulein! Bitte Sato nicht allein lassen!« Dieses dünnknochige Nichts von Menschenkind bettelte mit todesgroßen und doch frechen Augen, in denen eine entschlossene Kraft lag, der man sich nicht entziehen konnte. Iskuhi und auch Howsannah hatten sich dieser Sato gegenüber niemals des Widerwillens, ja manchmal sogar eines Schauders erwehren können. Selbst wenn sie reingewaschen und gestriegelt war, flößte sie den Frauen einen körperlichen Ekel ein. Jetzt aber mußte, so peinlich der Zuwachs auch störte, die Kleine auf dem Rücksitz des Wagens verstaut werden. Der Knecht Kework nahm neben dem Kutscher Platz. Kework stammte aus Adana. Seitdem er dort bei einem der zahlreichen »Ereignisse« als halbwüchsiger Junge einen Kolbenhieb über den Kopf erhalten hatte, war er ein gutmütiger Kretin geblieben. Er konnte nur stotternd reden. Und wenn er, ähnlich wie Sato von der Vagabundiersucht, von seinem Tanzwahn befallen wurde, so ließ sich auch mit ihm nichts anfangen. Dieser feierliche Wahn, dessentwegen er der Tänzer genannt wurde, war eine stille und sehr harmlose Anfälligkeit, die sich nur selten einstellte, zumeist dann, wenn ihn etwas erregt hatte. Sonst aber versah Kework treulich seinen Dienst als Ofenheizer, Wasserträger, Holzhacker, Gärtner und leistete mit stummer Leidenschaft die Arbeit von zwei Männern. Wieviele wertvolle Kinder und Erwachsene wären zu retten gewesen, so ging es Aram durch den Kopf, und Gott schickt mir eine kleine Verbrecherin und einen Idioten. Dem Pastor war es, als läge in dieser Tatsache eine bedeutsame Erwiderung auf sein laues und opferflüchtiges Verhalten den ausgetriebenen Zeitunlis gegenüber. Sato hingegen wurde von einer ungestümen und ungetümen Lustigkeit erfaßt. Sie drängte sich mit ihren spitzen Knien an Iskuhi, sie lachte und gluckste in den Tag hinein, als sei die Ausstoßung das herrlichste Feiertagsgeschenk der Welt. Vielleicht war sie noch niemals in einem Wagen gefahren. Sie ließ ihre magere Hand mit den breiten garstigen Nägeln wie über einen

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