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Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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lautes Lachen ausbrach. Doch bald sollte ihr das Lachen vergehn. Es begann am Nachmittag mit dem Leiden der Kinder. Sonderbar wars, daß den Kleinen die wundgelaufenen Füße nicht allmählich, sondern plötzlich und allen auf einmal zum Bewußtsein kamen. Ein Klagen, Wimmern, Winseln, das den Frauen das Herz zerriß, setzte mit einem Schlage ein. Der gutherzige junge Offizier verstand aber nur in einem einzigen Punkte keinen Spaß. Bis auf die notwendigen Rasten durfte es keine Aufenthalte und Verzögerungen geben. Er hatte den Befehl, in den ersten Abendstunden mit dem Transport in Marasch einzutreffen. Während er alles andre oft gegen die Bestimmungen nach seinem Gutdünken einrichtete, gerade diesen Befehl wollte er pünktlich befolgen. Das hatte sich sein Ehrgeiz in den Kopf gesetzt. An eine Rast war also nicht zu denken, in der man die wunden Füßchen mit Öl und anderen Linderungsmitteln hätte behandeln können. »Das hilft alles nichts! Seht zu, daß wir nach Marasch kommen, dort könnt ihr euch pflegen! Vorwärts!« Es ging nicht anders, ein Teil der Kinder mußte getragen werden. Hiebei zeichnete sich auch die schwächliche Iskuhi aus, und zwar knapp bevor sie selbst die Beute eines schweren Unheils werden sollte.
    Ihr Bruder hatte sie mehrmals davor gewarnt, immer am Ende des Zuges zu bleiben, und zwar hinter den Waisenkindern, die ihn beschlossen. Hier, knapp vor den feindselig nachfolgenden Soldaten und allerlei Greuelgestalten, die aus den Dörfern neugierig herbeigelaufen kamen, war gewiß die unheimlichste Stelle des Transportes. Iskuhi aber ließ sich nichts sagen, da sie die Überwachung der Kinder als ihre Pflicht ansah, zumal diese von Viertelstunde zu Viertelstunde immer müder und fußmaroder wurden. Die anderen Lehrer des Waisenhauses entfernten sich häufig, und dann blieb Fräulein Tomasian allein zurück, um die jammernde Schar mit verschiedenen Künsten vorwärts zu bringen. Des stets kläglicheren Gestolpers wegen zerriß auch der Zug öfters und es entstand dann ein ziemlicher Zwischenraum zwischen der Nachhut und dem Hauptteil. Während einer solchen Trennung fühlte sich Iskuhi jäh von hinten angepackt. Sie schrie auf und suchte sich loszureißen. Über ihr ging ein furchtbares Gesicht auf, riesig, mit schmutzigen Bartstoppeln, schnaufend, augenrollend, stinkend, nicht menschlich. Sie schrie noch einmal gellend und dann rang sie stumm mit dem Mann, dessen Speichel auf sie herabtroff, dessen braune Tatzen ihr das Kleid zerrissen, um sich in ihre nackten Brüste einzukrallen. Sie verlor die Kraft. Das Gesicht über ihr wuchs zu einer bergigen Höllenwelt, die sich immer verwandelte. Sie versank in dem scheußlichen Atem. – Iskuhis Glück wollte es, daß der Offizier auf das rasende Gezeter der Kinder hin scharf herangetrabt kam. Die braunen Tatzen schleuderten sie zu Boden. Die Gestalt suchte zu fliehen, erhielt aber doch noch einen Hieb mit der flachen Säbelklinge über den Nacken.
    Iskuhi raffte sich auf, ohne weinen zu können. Anfangs glaubte sie nur, ihr linker Arm sei durch die Anstrengung des Kampfes fühllos geworden. Wie eingeschlafen, dachte sie. Doch plötzlich schlug der wahnsinnige Schmerz auf wie eine Stichflamme. Sprachlos durch diesen Schmerz, konnte sie ihrem Bruder nichts erklären. Howsannah und Aram führten sie. Kein Laut kam aus ihrem Mund. Alles an ihr war ohnmächtig, nur die Füße nicht, die kleine, schnelle Schritte machten. Wie sie damals Marasch erreichen konnte, blieb ihr ein Rätsel. Als die Stadt in Sicht kam, trat der verzweifelte Tomasian an den Offizier heran und wagte die Frage, wie lange die Verschickten in Marasch würden bleiben dürfen. Er bekam die offene Auskunft, dies hänge nur vom Mutessarif ab, jedoch mit einigen Tagen Aufenthalt sei bestimmt zu rechnen, weil ja der größere Teile der vorhergehenden Transporte noch immer in der Stadt liege. Man müsse mit neuen Einteilungen rechnen. Aram hob flehend die Hände:
    »Sie sehen den Zustand, in dem sich meine Schwester und auch meine Frau befindet. Ich richte an Sie die Bitte, daß wir uns heute abends in die amerikanische Mission begeben dürfen.«
    Der junge Mann zögerte lange. Das Mitleid mit der armen Iskuhi aber übertäubte schließlich seine dienstlichen Bedenken. Im Sattel schrieb er einen Erlaubnisschein für Pastor Aram und die beiden Frauen:
    »Ich habe nicht das Recht, Sie freizulassen. Wenn man Sie erwischt, wird man mich zur Verantwortung ziehn. Sie haben den Befehl, sich

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