Die vierzig Tage des Musa Dagh
Verfügung. Für die Maroden und Schwachen konnte daher ein warmes Essen zubereitet werden. Da man aber schon morgen in einer großen Stadt sein würde, schonten auch die Kräftigen ihre Vorräte nicht. Dadurch gestaltete sich der Marsch in den nächsten Stunden besonders leicht und zuversichtlich. Als man dann am Abend auf freiem Felde das Lager bezog und in todmüder Gleichgültigkeit sich auf den Decken ausstreckte, mußte man Gott vom Herzen danken, denn der erste Tag war sehr glimpflich verlaufen. Nicht weit entfernt von dem Freilager gab es ein großes Dorf, namens Tutlissek. In der Nacht kamen einige der Yailadji, der Bergbewohner aus diesem Dorf herüber, um die türkische Wache zu besuchen. Die Männer saßen würdevoll beieinander, rauchten gravitätisch und schienen eine ernsthafte Unterhaltung zu führen. Als die Zeitunlis gegen Morgen erwachten und nach den Eseln und Ziegen sehen wollten, um sie zu tränken, waren die Tiere verschwunden.
Dies war der Auftakt eines harten Tages. Schon in der zweiten Marschstunde ereignete sich ein Todesfall. Ein alter Mann sank plötzlich um. Der Zug stockte. Der junge, sonst so freundwillige Offizier ritt zornig heran: »Vorwärts!« Einige versuchten den Alten aufzuheben und weiterzuschleppen. Sie mußten ihn aber bald wieder niedergleiten lassen. Ein Saptieh stieß ihn mit dem Fuß: »Auf, auf, du Schwindler!« Als er aber mit verdrehten Augen und offenem Mund liegen blieb, schob er den Leichnam in den Straßengraben. Der Offizier hetzte: »Nicht stehen bleiben! Es ist verboten! Weiter, weiter!« Arams bewegte Bitte und das Jammergeschrei der Familie konnten weder die Mitnahme des Entseelten noch auch ein rasches Begräbnis erwirken. Es mußte genügen, daß man das Haupt des Toten ein wenig erhöhte und je einen großen Stein zu beiden Seiten legte. Ihm die Hände über die Brust zu falten, dazu war keine Zeit mehr, denn die Saptiehs begannen plötzlich fluchend mit Stöcken und Knüppeln auf die zögernden Scharen einzuhauen. Der Transport geriet in Verwirrung, in ein fluchtartiges Laufen, das sich erst beruhigte, als der Tote schon weit zurückgeblieben war und die Raubvögel des Taurus näher kreisten.
Kaum hatte sich das Entsetzen über dieses erste Opfer gelegt, als eine Yayli, eine plumpe zweispännige Kutsche, den Zug einholte. Die Wandernden wurden von der schmalen Straße in die sumpfigen Felder abgedrängt. Im Wagen saß ein umfangreicher Herr von etwa fünfundzwanzig Jahren, der viele Ringe an seinen Fingern trug. Mit seiner geschmückten Hand reichte er dem Kommandanten nachlässig ein Schriftstück zum Wagen hinaus. Er verfügte über das staatlich gestempelte Recht, sich eine oder mehrere Armenierinnen für seinen Hausbedarf auszuwählen. Da die Kutsche gerade mitten unter den Waisenkindern des Weges fuhr, fiel sein freundlich-müdes Auge auf Iskuhi. Er deutete mit seinem Stock auf sie und winkte ihr lächelnd zu. Der stattliche Mann hielt sich durchaus nicht für einen Frauenräuber, sondern für einen Frauenerlöser, war er doch bereit, eines dieser unseligen Geschöpfe seinem schmutzigen Geschick zu entreißen und bei sich aufzunehmen, in einer vorbildlichen Familie und in einem wohlverwahrten Stadthaus. Um so erstaunter aber war er, als die Schöne, anstatt sich beglückt in seine rettenden Arme zu begeben, laut den Namen »Aram« rufend, ihm entlief. Der Wagen folgte ihr. Vielleicht hätten alle Gründe, mit denen der Pastor seine Schwester zu schützen suchte, nichts geholfen. Daß er ihre europäische Erziehung ins Treffen führte, war ein Fehler der Verzweiflung, denn durch diesen Hinweis wurden die Wünsche des wohlwollenden Helfers in der Not nicht abgekühlt, sondern besonders erhitzt. Erst das schneidige Eingreifen des jungen Offiziers setzte dem Handel ein Ende. Dieser zerriß kurzerhand den Wisch des eifrigen Brautwerbers: Er, als verantwortlicher Kommandant, habe allein über das Schicksal der Verschickten zu bestimmen. Wenn sich der Effendi nicht mit der äußersten Geschwindigkeit entferne, so werde er ihn samt seiner Yayli auf der Stelle verhaften. Zur Bekräftigung dessen versetzte er der Krupp des linken Pferdes einen Hieb mit der Reitpeitsche. Gekränkt verließ der um ein gutes Werk gebrachte Wohlbeleibte den Schauplatz in rücksichtslosem Trab. Von diesem Zwischenfall erholte sich Iskuhi schnell. Nach einer Weile erschien ihr die Geschichte wie eine Posse, die sie gar nichts anging, so daß sie über die komischen Einzelheiten in
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