Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die vierzig Tage des Musa Dagh

Die vierzig Tage des Musa Dagh

Titel: Die vierzig Tage des Musa Dagh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
Vom Netzwerk:
besichtigte grämlich Pferdehufe, Räder, Achse und erklärte, er habe genug, die Pferde seien abgehetzt, der Wagen zu schwer belastet, er sei nicht verpflichtet, alle möglichen Armenier durch die Welt zu führen, und er werde jetzt sogleich umkehren, um noch zu einer guten Stunde in Turont einzutreffen, wo er Verwandte habe. Keine Bitte half, nicht einmal die Erhöhung des Fahrpreises um eine beträchtliche Summe. Er habe seinen Teil erhalten, er benötige nicht mehr, bekundete der Türke voll Großartigkeit. Er wolle aber ein übriges tun und die Fahrgäste das Straßenstück bis nach Turont völlig unentgeltlich zurückbringen, woselbst sie in dem prächtigen Chan seiner Verwandten in echten Betten trefflich nächtigen könnten. Pastor Tomasian hob den Stock und hätte den Unverschämten gezüchtigt, wäre ihm Howsannah nicht in den Arm gefallen. Darauf warf der Mann die Gepäckstücke aus der Yayli, zog die Zügel an und ließ die fünf Menschen mitten in einer leeren und öden Welt stehen. Sie wanderten dann noch eine Stunde lang auf der Straße weiter, in der Hoffnung, ein Dorf oder eine Fahrgelegenheit werde sich zeigen. Doch weit und breit kam nichts, kein Karren, keine Scheune, keine Hütte, kein Dorf. Wiederum mußte eine Nacht unter freiem Himmel zu Ende gelebt werden und sie zog langsamer vorbei als die erste, denn niemand hatte mit ihr gerechnet. Die Biegung der Straße schimmerte im schwachen Mondlicht wie eine gefährliche Säbelklinge. Sie legten sich deshalb fernab von ihr auf eine nackte Erdstelle. Doch auch die Allmutter Erde erwies sich den Armeniern gehässig. Von unten drang Feuchtigkeit durch die Decken und eine summende Glocke von Sumpfluft stülpte sich über sie, in welcher die Gelsen ihr giftiges Lied sangen. Kework und der Pastor wachten, letzterer ohne den Jagdstutzen aus der Hand zu legen, den er von den Vätern in Marasch zur Waffe erhalten hatte.
    Die letzte Steigerung des Elends aber blieb den folgenden fünfzig Stunden vorbehalten, welche die Wanderer brauchten, um Yoghonoluk zu erreichen. Es war ein Wunder Gottes, daß mit Howsannah kein Unglück geschah und daß Iskuhi nicht zusammenbrach. Der Pastor beging den Fehler, anstatt weiter auf der großen Straße zu bleiben, allzufrüh auf einem Karrenwege in südwestlicher Richtung abzuschwenken. Dieser Weg versickerte nach einigen Meilen im Nichts. Und nun begann das große Suchen und Irren. Auf diesem letzten Dornenpfad bewährte sich Keworks unerschöpfliche Körperkraft. Er trug die Frauen abwechselnd auf seinem Rücken, weite Strecken lang. (Das Gepäck hatte man bald liegen lassen.) Der Pastor stapfte voran, nur auf eines bedacht, die Richtung festzuhalten, die das Gewölk der Küstenberge angab. Immer wieder fand sich ein Karrenweg, den man ein Stück verfolgen konnte und der auf morschen Holzbrettern über die Wasserläufe setzte. Hie und da half auch ein Kangni, ein Ochsenkarren, über eine längere Strecke hinweg. Bösen Erlebnissen durch Menschen jedoch waren sie nicht ausgesetzt. Die wenigen Moslems, die ihnen begegneten, Bauern, erwiesen ihnen Freundliches, reichten ihnen Trinkwasser und Käse. Wäre ihnen aber Böses zugestoßen, sie hätten sich nicht gewehrt. Fühllos gegen die Schmerzen ihrer zerschlagenen Glieder, ihrer blutenden Füße schwankten sie in einer narkotischen Wolke dahin, in der Höhle ihrer Erschöpfung. Selbst der starke Aram taumelte des Weges, nicht mehr ganz bei sich, verloren in einer schaukelnden Bilderwelt. Manchmal lachte er laut vor sich hin. Eine merkwürdige Kraft der Schmerzüberwindung bewies Sato. Auf ihren wunden, blauschwarz gelaufenen Füßen trabte sie hinter Iskuhi, als sei sie von ihren Streifzügen her solches gewöhnt.
    Als Gabriel Bagradian die Vertriebenen auf den Kirchenstufen erblickte, waren sie noch in jenem Zustand erschöpfter Entrückung. Doch, da sie jung waren, da die Wucht des Gerettet-Seins sie plötzlich überfiel, da die alten Gesichter des Vaters, des Priesters, des Doktors vor ihnen schwebten, da zitternde Worte erklangen, da die Wärme der Heimat sie umgab, kamen sie schnell zu sich und die übermenschliche Ermattung wich ohne Übergang einer erregten Lebhaftigkeit.
     
    Pastor Aram Tomasian beteuerte immer wieder:
    »Denkt nicht an die alten Massaker! Das ist viel schlimmer, viel trauriger, viel unerbittlicher als alle Massaker, und vor allem viel langsamer. Es bleibt bei Tag und Nacht …«
    Er preßte die Hände gegen die Schläfen:
    »Ich kann damit nicht

Weitere Kostenlose Bücher