Die Violine des Teufels
Dutzende fester Akkordabfolgen, die gelegentlich sogar einen Namen erhielten wie die Schacheröffnungen.
»Während wir im Schach beispielsweise die spanische Eröffnung kennen, gibt es in der Musik zum Beispiel den Passamezzo Antico, eine Sequenz, auf deren Grundlage in der Renaissance Hunderte von Werken komponiert wurden – darunter auch Greensleeves . Sie besteht aus a-Moll, G-Dur, a-Moll, E-Dur. Wenn Sie mir eine Kopie dieser Partitur hierlassen, kann ich in der Bibliothek des Konservatoriums nachsehen, ob diese Abfolge irgendeinem bekannten Schema entspricht.«
Perdomo dankte Larrazábals Vater für seine Mithilfe und gestand ihm: »Señor Larrazábal, wir arbeiten mit der Hypothese, dass diese Partitur eine Botschaft ist. Vielleicht verrät uns diese Musik, warum Ihre Tochter an dem Abend, an dem sie ermordet wurde, in den Chorsaal kam.«
Als er Don Íñigo die Hand reichte, um sich von ihm zu verabschieden, ereignete sich etwas, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Ganz kurz meinte er, sich aus dem Augenwinkel selbst zu sehen, und zwar in identischer Haltung, also mit ausgestrecktem Arm, bereit, jemandem die Hand zu geben. Er sah sich wie in einem Spiegel oder einer Fensterscheibe, in seinem linken peripheren Gesichtsfeld. Doch noch ehe er den Kopf drehte, um dieser verstörenden Vision zu begegnen, wusste er, dass es sich nicht um ein Spiegelbild handeln konnte, denn in seiner Vision war er allein, ohne Larrazábals Vater, dem er doch gerade die Hand drückte.
»Diesmal habe ich nicht geträumt«, dachte er. »Diesmal habe ich wirklich einen Geist gesehen, obwohl ich hellwach war.«
37
I n den beiden Nächten nach seiner Rückkehr aus Vitoria hatte Perdomo erneut Alpträume, und da in allen immer wieder sowohl seine verstorbene Frau als auch Milagros Ordóñez auftauchten, schien es dem Inspector ratsam, seinen Freund José Carlos Albert nach dessen Meinung zu fragen. Albert war einer der renommiertesten forensischen Psychiater des Landes und seit der Schulzeit – sie hatten dieselbe weiterführende Schule besucht – sein persönlicher Freund. Sie sahen sich nur selten, aber jedes Mal, wenn sie zusammen einen Kaffee trinken gingen, waren ihre Gespräche, so kurz sie auch sein mochten, für beide bereichernd.
Albert war kurz zuvor den Ermittlungsgerichten in Barcelona zugewiesen worden, doch er reiste häufig nach Madrid, auf Einladung verschiedener Fernsehsender, die sich sein unbestreitbares Medientalent und seine profunden Kenntnisse der Kriminologie und Rechtsmedizin zunutze machen wollten. Er war ein mittelgroßer Mann mit bereits ergrauten Haaren und ausgesprochen telegenen, dunklen, sehr durchdringenden Augen. Perdomo hatten diese Augen schon immer an die des Malers Pablo Picasso erinnert.
Sie verabredeten sich in einem Café in dem Teil des Bahnhofs Atocha, in dem die AVE-Hochgeschwindigkeitszüge abfahren, denn der Rechtsmediziner hatte nur sehr wenig Zeit, ehe er zum Fernsehen musste, und Perdomo wollte seine knapp bemessene Zeit auch nicht vergeuden.
»Wie verkraftest du die Trauer?«, fragte Albert, nachdem sie sich umarmt hatten.
»Tagesabhängig. Im Augenblick geht es mir besser, weil ich sehe, dass Gregorio allmählich wieder über seine Mutter spricht. Aber neulich abends, das war entsetzlich, da habe ich etwas getan, was mich selbst erschreckt hat. Ich habe das Handy meiner Frau angerufen, um ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter zu hören.«
»Die Menschen brauchen unterschiedlich lange, um einen solchen Verlust zu verarbeiten, Raúl. Setz dich nicht unter Druck. Aber jetzt sag mir: Wie kann ich dir helfen?«
Perdomo erzählte ihm knapp von seinen Alpträumen und erwähnte am Ende auch den Geist, den er in Vitoria gesehen hatte. Albert hörte ihm sehr aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen, und stellte schließlich seine Diagnose.
»Die Ersten, die dem, was du gesehen hast oder geglaubt hast, zu sehen, einen Namen gaben, waren die Deutschen. Sie nannten das einen ›Doppelgänger‹. Leider muss ich dir sagen, dass eine solche Erscheinung in der nordischen Mythologie den Tod ankündigt. Hier in Spanien nennen wir so etwas einfach Bilokation, das bedeutet, du hast das Gefühl, an zwei Orten gleichzeitig zu sein.«
»Das Gefühl?«, protestierte Perdomo. »Ich weiß, was ich da in Vitoria gesehen habe, und das ist jetzt keine billige Parapsychologengeschichte. Ich habe mich da selbst gesehen, links von mir, genau in dem Moment, in dem ich Larrazábals Vater die
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