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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Marktfrauen, Lehrlinge und Bäckerjungen mit Brotlaiben auf dem Kopf. Die Blätter an den Bäumen über den Gartenmauern schienen still und ekstatisch zu glühen, und selbst das Tor von Aldersgate, hoch und dämmrig, erstrahlte matt, so als ob die Hirne, die es ausgedacht hatten, noch immer darin wirkten.
    »Verrückt«, hörte ich hinter mir einen Mann leise wie durch Wolle sagen, während ich ihnen an Master Roberts Seite den Weg zur Thames Street wies. »Sie starrt nur vor sich hin und sagt kein Sterbenswörtchen.«
    »Na ja, ist doch verständlich, wenn man bedenkt, was sie erlebt hat.«
    »Also ich, ich würde mich gewißlich nicht davonmachen wie dieser blöde Gregory, wenn ich solch eine Frau hätte. O nein, wenn ich einmal eine reiche Frau heirate, dann bleibe ich zu Hause und trinke mich am besten französischen Wein zu Tode.«
    »Aller Wahrscheinlichkeit nach nicht – du wärst in kürzester Zeit wieder im Eberkopf , um uns Bären aufzubinden.«
    Warum mußten sie über derlei nichtige Dinge reden? Sahen sie denn nicht, was mit der City los war? Lebendiges Licht malte und formte alles und kräuselte jegliches Ding mit sachten, seligen Wellen.
    Bei Master Wengrave machte ein Wind, den es nicht gab, daß die Ratsherrnwimpel vor dem Haus erbebten und flatterten. Master Kendalls hohes Haus, jetzt meines und eine Hintergasse und einen Garten von Master Wengraves Haus entfernt, schien ein eigentümlich pulsierendes Innenleben zu führen. Die Fensterscheiben waren der Sicherheit halber herausgenommen und eingelagert worden, doch die Läden standen offen und atmeten ein und aus wie lebendige Kehlen. Die bleiernen Wasserspeier, die den Regen aus den Rinnen ableiteten, wirkten wie lebendig gefroren und ungeduldig, daß man sie erlöse. Als ich sie so anstarrte, kam Mistress Wengrave vor die Tür und bat uns ins Haus, und ich drehte mich um und sah, daß auch ihr Gesicht diesen satten, goldenen Schein hatte. Ich betrachtete es stumm und entzückt, und sie dankte Master Robert, übernahm die Patenkinder, ließ sie von zwei Knechten nach oben ins Bett tragen und gab der Küchenmagd, die kam und wegen des Abendessens nachfragte, ihre Anweisungen. Das Gesicht der Küchenmagd sah genauso aus – und ich hatte sie immer für ein einfältiges Ding gehalten.
    »Margaret, möchtest du etwas essen oder trinken? Du siehst recht eigenartig aus. Bist du krank?« Ihre Stimme kam wie aus weiter Ferne.
    Ich hörte mich sagen: »Ich habe so viel hinter mir … Gilbert de Vilers ist tot… ich muß… allein…«
    Mistress Wengrave, die seit langem meine Nachbarin und meine Freundin ist, sah ernst aus, und ihr blühendes Gesicht unter dem güldenen Schein erblaßte ein wenig.
    »Allein?« sagte sie. »Du solltest nicht allein sein. Nicht zu solcher Zeit. Komm, wir wollen für ihn beten, dann wird dir leichter ums Herz.« Und sie legte mir den Arm um die Schulter und wollte mich zur Hauskapelle schieben. Doch kaum hatte sie mich hineingeführt, da roch es angebrannt und klirrte ganz arg, was auf eine Krise in der Küche hindeutete. Mistress Wengrave hat eine Todesangst vor Feuer. Als Master Wengrave den oberen Stock seines Hauses umbaute und einen Erker anfügte, da bat sie ihn, eine Küche außerhalb des Hauses zu bauen. Er fand aber, die Küche, die sie hätte, sei gut genug, denn sie war ganz aus Stein, und es sei ohnedies bequemer, sie im Haus zu haben, schließlich wolle er kein abgekühltes Essen aus einer Küche außerhalb haben. Und so wachte sie denn immer mitten in der Nacht auf und vermeinte Rauch zu riechen und ging im Dunkeln um und sah nach ihren Kindern.
    »Heilige Jungfrau Maria! Margaret, verzeih mir!« rief sie und entfloh. Doch ich nahm es kaum wahr. Die Kapelle der Wengraves ist ein winziger Raum zu ebener Erde, kaum groß genug für eine Familie, und besitzt das einzige Glasfenster im ganzen Haus. Die übrigen Fenster haben Rahmen mit gewachstem Leinen, die man bei gutem Wetter herausnehmen kann. Doch das Kapellenfenster an der Ostseite des Hauses, das die Morgensonne einfangen soll, war klein und daher nicht so teuer zu verglasen. Jetzt ging die Sonne fast schon unter, und das Fenster hätte dunkel sein müssen, doch es glühte, als spiegelte sich die neue Morgenröte darin. Rosiges, güldenes Licht wölkte herein wie Dampf. Der winzige Raum war unglaublich still; die Geräusche aus dem Haus rings um mich drangen wie durch einen Schleier herein – waren da und doch nicht da. Von fern kreischte eine Frau, Rufe

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