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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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nach mehr Wassereimern, dann eilende Schritte, alles wirkte gespenstisch gedämpft. Als ich die wogenden Lichtwolken betrachtete, vernahm ich eine kaum hörbare, stille Stimme in meinem Ohr. Sie sagte: »Margaret«, als wollte sie mich zum Zuhören auffordern.
    Ich rührte keinen Muskel, damit sie nur ja nicht verschwand.
    »Margaret!« sagte die Stimme erneut, jetzt ein wenig lauter.
    »Du bist es. Ich dachte schon, Du hättest mich verlassen.«
    »Verlassen? Ich verlasse niemanden. Schließlich bin Ich die Ewige Botschaft. Du hast nur nicht zugehört, das ist alles. Reden, ja; zuhören, nein.«
    »Ich dachte, Du hättest mich verlassen, weil – weil –«
    »Ich weiß. Darum bin Ich hier.«
    »Ist es Sünde, so zu lieben? Ich meine, einen Menschen, einen Mann, nichts Göttliches? Ich versuche ja, an Himmlisches zu denken, aber ich sehe immer nur sein Gesicht.«
    »Margaret, wer hat die Liebe erschaffen?«
    »Ja, ach – hm –«
    »Ich, Margaret. Liebe in ganz verschiedener Gestalt. Groß und klein. Das ist eines Meiner höheren Geheimnisse.«
    »Geheimnisse?«
    »Aber ja. Je mehr man gibt, desto mehr empfängt man. Im Gegensatz zum Wasser, das Ich gewöhnlich erschaffen habe. Wenn man es verschüttet, hat man nichts mehr. Wie langweilig wäre Meine Schöpfung wohl ohne Meine Geheimnisse.«
    »Aber sie tut so weh. Hast Du sie so erschaffen, damit Du Deinen Spaß hast?«
    »Margaret, du fragst Mich schon wieder aus. Schämst du dich denn gar nicht für deine Unverschämtheit? Die meisten Menschen würden jauchzen und lobsingen für soviel Erleuchtung. Doch nicht meine störrische, schwierige Margaret.«
    »Tut mir leid.«
    »Ich wollte dir etwas zeigen. Doch dieser Tage scheint niemand zuzuhören – nicht einmal du.«
    »Es tut mir aufrichtig leid; jetzt höre ich zu.«
    »Und du tust gut daran! Da sieh, was Ich alles tun mußte, damit du aufmerkst! Licht! Wolken! Stimmen! Demnächst verlangst du noch Gerüche und Himmelschöre! Wenn Ich dich nicht so sehr liebte –«
    »O ja, wirklich?«
    »Unterbrich Mich nicht immer, Margaret. Auch einer deiner Fehler.«
    Unterdes war die Feuerpanik abgeklungen, und Mistress Wengrave stand in der Tür. Mit dem Außenohr konnte ich hören, daß sie »Psst« sagte. »Da ist noch jemand. Und Licht! Hat Margaret einen Einbrecher hereingelassen? Sie ist viel zu arglos.« Und jemand antwortete – wer, weiß ich nicht.
    »Hast du schon einmal das Meer gesehen, Margaret?« fragte die Stimme.
    »Nein.«
    »Aber du kannst es dir vorstellen, nicht wahr?«
    »Aber ja doch; viel, viel Wasser.«
    »Und wenn du noch nie eine Spur Wasser gesehen hättest, könntest du dir dann ein Meer vorstellen?«
    »Nein.«
    »Und wenn du noch nie eine Spur Liebe erfahren hättest, könntest du dir dann Meine Liebe zur Schöpfung vorstellen?«
    »Dann ist es also nicht unrecht? Daß ich ihn zu sehr liebe?«
    »Liebe ist ein Teil Meines Schöpfungsplanes, Margaret. Da, sieh.«
    Was dann geschah, läßt sich nur schwer in Worte fassen. Der Schmerz, der zu jeder Liebe gehört, wurde immer stärker, während der Raum sich weitete und immer schöner wurde. Dann ging er restlos in einer Art Meer aus silbrigem Licht unter, das vibrierte und pulsierte und sich rings um mich ausbreitete, so weit das Auge reichte. Das gesamte Universum, der Mond und die Sterne und alle Staubteilchen und die Welt und die Splitter und Stückchen, aus denen alles erschaffen ist, und Oben und Unten und Seitliches, all das tanzte vor lauter Freude. Mir war, als müßten mein Geist und mein Leib bei diesem Anblick vor Wonne zerspringen. Und dann barst ich in tausend Stücke. Ich schrie, während ich mich in dem tanzenden Universum verlor, bis ›Margaret‹ sich vollends in tausend Splitter zerteilte, und die vibrierten, so leidenschaftlich liebten sie und tanzten, tanzten – bis in alle Ewigkeit.
    »Was ist dir, Margaret? Es hat ganz furchtbar geblitzt, wie bei einem Gewitter, und wir haben dich schon für tot gehalten.« Mistress Wengraves besorgte Stimme machte mich wieder heil und ganz. Aber immer noch spürte ich das Licht, und dabei konnte ich es gar nicht mehr sehen, auch wenn das seltsam klingt.
    »Gregory«, sagte ich. »Ich werde ihn finden.«
    »Gewiß, liebe Margaret, gewiß doch«, sagte Mistress Wengrave in diesem besonderen, nachsichtigen Ton, den man sonst nur für Kleinkinder und Wahnsinnige braucht.
    Als ich in jener Nacht schlaflos im Bett lag, da entdeckte ich, daß ich alles hören konnte. Damit meine ich nicht

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