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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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alles im Zimmer, ich meine wirklich alles. Ich konnte die Mädchen atmen hören, die unregelmäßigen Atemzüge des kleinen Walter Wengrave, den im Zimmer nebenan Alpträume quälten. Er ist Mistress Wengraves Lieblingskind, wie es zarte Kinder häufig sind, und die vielen Nächte, die sie an seinem Bett gesessen hatte, während er nach Atem rang, hatten die beiden noch enger aneinander gebunden. Zweimal hatte ich ihn schon gerettet, und das hatte sie mir nie vergessen, obwohl wir es vor ihrem Kaplan geheimhalten mußten, der sehr strenggläubig war, wie auch vor ihrem Mann, der einen Ausbund an Frömmigkeit darstellte.
    Jetzt konnte ich sogar die Geräusche aus entfernten Zimmern hören, so als ob sie nur ein paar Zentimeter von meinem Ohr entfernt wären. Ich hörte Holzwürmer im Gebälk kraspeln und oben im Haus die beiden kleinen Lehrjungen in dem langen Raum unter dem Dachfirst wispern, wo sie und die Gesellen in ein paar großen Betten schliefen. Und ich lauschte: Nebenan, in meinem eigenen Haus, konnte ich die Köchin mächtig schnarchen hören; darüber hatten wir uns früher immer so lustig gemacht. Ich hörte Katzen auf der Straße auf leisen Pfoten schleichen und ein paar Straßen weiter Ratten die Dachfirste entlanglaufen. Ein Hund bellte; in Schenken schwadronierten Männer, obwohl die Abendglocke längst geläutet hatte; die Wachen griffen einen nächtlichen Streuner auf, der seinem Kummer Luft machte, während man ihn ins Gefängnis schleppte. Ich konnte Paare hören, die sich im Dunkel liebten, und Pferde, die sich in ihren Boxen die Beine vertraten. Sogar noch die Fische im Fluß schwammen mit einem sacht gleitenden Geräusch.
    Rings um mich herum wisperten im Dunkel die Stimmen der City. Konnte ich etwas von jenseits der Stadtmauer vernehmen? Ich strengte mich an und hörte einen Fuchs durchs Gras schnüren und den Flügelschlag der Eulen auf ihrer nächtlichen Jagd. Ich lauschte und lauschte, bis ich es hörte: das tiefe, fast unhörbare Summen, das die Erde selber machte. Dabei fiel mir etwas auf, und als ich diesem Summen eingehender lauschte, da hörte ich den knappen, hohen Ton, den meine eigene Seele machte. Töne von anderen Menschen fielen nach und nach ein und schließlich die zarten Töne der wilden Tiere und des Geflügels, und jeder hallte summend nach wie eine Glocke, lange nachdem sie geläutet wurde. Soviele Töne – solch ein sachtes Geläut im Dunkeln, und darunter wie der Baß einer großen Orgel das Summen von Mutter Erde. Das war Musik; ein großer Akkord, der das Universum erfüllte. Ein Gleichklang, der lauter wurde und wieder abschwoll und sich zu einem vibrierenden Lied auf nur einer einzigen Note vereinte. Doch es gab kleine Stellen, wo nichts sang, Stellen die mir falsch vorkamen. Und als ich so lauschte, hörte ich es in weiter Ferne: Einen Mißton, einen kaum hörbaren, schrillen Laut an der Stelle, wo das Lied abgebrochen war, so als wären die Sänger vor Entsetzen verstummt. Und was ich an jenem Ort in weiter Ferne vernahm, war unverkennbar Gregorys Stimme, die wie ein schwaches Echo aus der Tiefe zu mir schrie:
    »Margaret!«

    Ein eisiger Lufthauch von den hochragenden Granitfelsen jenseits der Burg fuhr in die Behänge an den Wänden des großen Rittersaals. Hinter Sieur Renaud d'Aigremont, Comte de St. Médard, kräuselte sich stumm ein Reigen bekränzter Jungfrauen, während dieser ein angeschmutztes und viele Male gefaltetes Blatt Papier aus der Hand eines knienden Dieners entgegennahm.
    »Aha, das also hast du ihm abgenommen, Pedro?«
    »Ja, Mon Seigneur, das war alles.« Der Graf bat den Dominikaner im schwarzen Habit neben dem Höfling mit einem Blick um Bestätigung. Das graue Gesicht mit den kalten Augen nickte stumm.
    »Keine Reliquie, bist du dir da sicher?«
    »Nichts, Mon Seigneur, kein Splitter, kein Knochen, kein Kruzifix oder Rosenkranz. Wir haben nichts übersehen. Nur dieses Papier, das er unter seinem Hemd barg.«
    »Doch nicht etwa ein Gebet. Du weißt, daß mir dergleichen Unbehagen bereitet.«
    »Nein. Nur ein gewöhnlicher Brief. Lest ihn doch selbst.« Der Sieur d'Aigremont begab sich zu einer Stelle unter einem hohen Bogenfenster, wo er mehr Licht hatte, und entfaltete den Brief. Ein Blutfleck war darauf. Er rümpfte angewidert die Nase.
    »Ich möchte doch hoffen, daß ihr ihn nicht schlimm zugerichtet habt. Ihr wißt, ich mag es nicht, wenn ihnen vorher etwas zustößt. Dann halten sie nicht lange durch; denkt daran, ich habe es nicht

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