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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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das Blei verflüssigt, und schon sind sie, ah, golden –«
    Master Kendalls Geist hatte sich in einer Ecke gleich unter der Decke eingerichtet. Er hatte die Arme gefaltet und schüttelte lächelnd den Kopf. »Margaret«, sagte er, »ich muß schon sagen, wenn du in der Gesellschaft dieses erfindungsreichen Burschen reist, mache ich mir weit weniger Sorgen als sonst wohl. Jammerschade, daß Geister nicht übers Wasser können, sonst würde ich auch mitkommen, einfach weil ich miterleben möchte, welche Tricks er sich noch einfallen läßt –«
    »Ich möchte doch sehr bitten«, zischelte es aus derselben Ecke.
    »Madame Belle-mere!« rief ich.
    »Wenn Ihr Euch schon in meine Ecke drängeln müßt, wo es noch drei andere gibt, die genau den gleichen Dienst tun, so könntet Ihr zumindest den Anstand haben, Euch zu entmaterialisieren und mir nicht länger den Blick zu versperren.«
    »Ruhe, Ruhe, Margaret!« ermahnte mich Bruder Malachi und blickte von seiner Arbeit hoch. »Ich bin in einem sehr heiklen Stadium des Verfahrens – mit Geistern kannst du auch zu anderer Zeit plaudern.« Und so hockte ich mich stumm auf die Bank, während der Geruch von heißem Metall und Harz den Raum durchzog und Master Kendall Madame Belle-mere bissig Widerpart bot.
    »Ich habe keine Zeit, mich mit niedrig geborenen Kerlen abzugeben. Weg da, sage ich«, gab sie zurück und wurde als lange, schlanke Rauchsäule sichtbar. Master Kendall wirbelte aufgebracht und lief ganz bläulich an.
    »Madame, es stünde Euch besser an, in Wiegen zu schauen wie andere beschränkte Gespenster Euresgleichen, als den Versuch zu machen, ein schwieriges Verfahren zu verstehen, das völlig über Euer Begriffsvermögen geht.«
    »Über mein Begriffsvermögen, ha! Ich weiß genau, was er da tut. Falsche Goldringe macht er, die nach ein paar Monaten Tragen grün anlaufen. Ich hatte einen Onkel, der kaufte einst so einen. Er ließ dem Kaufmann die Ohren abhacken. Was man mit Euren wahrlich schon längst hätte tun sollen.« Master Kendall gab eine Art Knistern von sich, doch er wich und wankte nicht.
    »Das könnt Ihr mir glauben, auf eines verstehe ich mich, nämlich auf Geschmeide. Ich trage selber viele Ringe. So geziemt es sich für eine Frau meines Standes, selbst noch im Tod«, sagte sie naserümpfend. »Nicht daß ich Euch so viele hätte tragen sehen – und die Goldkette da – geschmacklos – so hoffnungslos bürgerlich.«
    »Ich habe einen erlesenen Geschmack, taktlose Provinzgans, Ihr. Ich habe die größten Sammler und Kenner im ganzen Königreich beliefert.« Es juckte mich, der Weißen Dame eine bissige Antwort zu geben und Master Kendalls Partei zu ergreifen, denn er hat wirklich einen ausgezeichneten Geschmack, doch ich durfte Malachi nicht stören.
    »Und laßt Euch eines gesagt sein«, sagte sie und kam aus der Ecke heraus, damit sie sich ausdehnen und Kleid und Schmuck vorführen konnte. Für das Umgehen in der Stadt hatte sie sich ziemlich herausgeputzt und eine Hofrobe angelegt. Wie, so verwunderte ich mich, wechseln Geister eigentlich die Kleidung? »Ich kann dutzend –, nein, hundertmal beweisen, daß eine Frau meines Geblüts aus besserem Stoff geschaffen ist als Ihr gemeinen Emporkömmlinge unter den Geistern.« Jetzt konnte ich auch ihr Gesicht sehen. Sie trug die lange Nase hoch und sah ungemein überheblich und siegessicher aus. Irgendwie vertraut, dieser Blick, und als mir einfiel wieso, zuckte ich zusammen. Genauso hatte Gregory ausgesehen, wenn er mit einem Aristoteles-Zitat über jemand herfiel. Gregory! Der Gedanke drückte mir das Herz ab. Und trotzdem brachte ich kein einziges Wort heraus. Malachi machte sich am Alembik zu schaffen und war so in seine Arbeit vertieft, daß er nicht merkte, wie Sim mit dem Blasebalgtreten nachließ. Master Kendall, der jetzt kampflos in den Alleinbesitz der Ecke gekommen war, wirkte zufrieden mit sich und schenkte der Weißen Dame ein Lächeln, als wäre sie ein ungezogenes Kind.
    »Das muß noch bewiesen werden«, sagte er ruhig.
    »Was mir nicht schwerfallen dürfte bei jemand wie Euresgleichen«, sagte die Weiße Dame. »Was würdet Ihr sagen, wenn Ihr hörtet, daß ich fest entschlossen bin, das Wasser zusammen mit meiner Schwiegertochter hier zu überqueren? Anscheinend ist sie die einzige interessante Verwandte, die mir geblieben ist.« Mir sank der Mut. Das hatte mir noch gefehlt, die als Reisegefährtin, der Geist meiner Schwiegermutter. Mein Gott, sie war ja nicht einmal sehr

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