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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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seiner Begrüßung auch nicht einen Zentimeter aus den Kissen aufrichtete, und dabei war klar, daß er nicht einmal ein Bannerherr war, und todkrank sah er auch nicht gerade aus. Er roch nicht nach Tod so wie ein Mann, der schon lange verwundet daniederliegt, eigentlich hätte riechen sollen. Er war unglaublich dünn, aber seine Augen glitzerten irgendwie boshaft und schlau, und auf seinen Wangenknochen sah man zwei fiebrig gerötete Flecken. Und wie er seine Diener abfertigte und Bittsteller anhörte, unbekleidet bis auf eine Nachtmütze und eine große Pelzdecke, die er bis zu den Schultern hochgezogen hatte, das wirkte reichlich vergnügt. Eine Spinne mitten in ihrem Netz, dachte Fray Joaquin. Dieser sogenannte Sterbende beherrscht hinter dem Rücken seines Sohnes alles. Und mit dem Sohn stimmt etwas nicht; der ist ganz zerzaust und sieht mit seinen eingesunkenen, glühenden Augen wie ein Wahnsinniger aus.
    Fray Joaquin hatte aus seiner Begabung, sofort zu riechen, woher in einem vornehmen Hause der Wind wehte, bislang viel Kapital geschlagen, und so erfaßte er, während er darauf wartete, vorgestellt zu werden, die Szene hinter dem Wandschirm in Blitzesschnelle. Und wer war der Ritter in dem reich bestickten, leuchtend roten Wams, der auf dem Bett saß? Zweifellos der vornehme Besucher. Aber auch ein alter Freund – vielleicht ein Waffengefährte, gemessen an seinem Alter und dem wölfischen Grinsen, das beiden zu eigen war und so wirkte, als freuten sie sich immer noch über einen guten Witz.
    Der Ritter war in der Tat Sir William Beaufoy vom Hofe des Herzogs, der Hugo auszurichten hatte, daß seine Zeit abgelaufen sei. Da er Margaret nicht herbeigeschafft hatte, sollte er nun Sir Geoffrey de Courtenay, den Stellvertreter des Herzogs in Lincolnshire, aufsuchen und genau erklären, warum er sie nicht beibringen konnte. Diese unangenehme Aufgabe, fand Sir William, wurde ihm nur dadurch leichter gemacht, daß sein alter Freund Sir Hubert immer noch unter den Lebenden weilte und er ihm vielleicht noch Trost auf dem Totenbett spenden konnte. Was für ein Schreck, wenn auch ein freudiger, daß die graue Todesfarbe aus dem Gesicht seines alten Freundes gewichen war, daß er aufsaß, aß und trank und auch seine fünf Sinne wieder beisammen hatte.
    »Ein wenig Würzwein und viel ekelhaftes, abgekochtes Wasser zu trinken, in dem widerliche Kräuter schwimmen. Stinkende Umschläge, und keinen anständigen Braten – nichts als scheußliche Suppen. Sie hat Wat vor ihrer Flucht die Rezepte gegeben, und nun tyrannisiert er mich damit. Und keine Menschenseele will mir etwas Richtiges zu essen bringen. Aber ich muß zugeben, es geht mir besser.«
    »Im Haushalt des Herzogs vermutet man, daß Hugo sie umgebracht hat.«
    »Umgebracht? Blanker Unfug. Sie hält sich versteckt, wie ich ihr geraten habe. Hugo ist ohnedies im Augenblick nicht zu einem Mord fähig. Seht ihn Euch an! Nur noch Haut und Knochen! Der hat dieser Tage andere Sorgen. Ehesorgen.«
    »Nach dem, was ich gesehen habe, braucht seine Frau eine anständige Tracht Prügel.«
    »Oh, das ist seine geringste Sorge. Ihr solltet ihn hören, wie er nächtens umgeht wie ein Gespenst. Zuweilen heult er. ›Meine Seele, meine Seele ist der ewigen Verdammnis anheimgefallen?‹ Pa! Er verdient es nicht besser. Als ob ich ihm nicht eingebläut hätte, daß ein richtiger Mann alles bekommt, was er will, ohne etwas zu versprechen!«
    »Abgesehen davon, Sir Hubert, erstaunt es mich, daß es Euch soviel besser geht.«
    In diesem Augenblick blickten sie auf und merkten, daß Fray Joaquins kalte, dunkle Augen sie mit kühlem, sachlichen Blick abschätzten. Etwas an dem Mann wirkte finster. Das machten nicht nur der dunkle Umhang oder die schwarze Dominikanerkapuze, die das graue, verkniffene Gesicht beschattete. Er hatte etwas an sich – mag sein, sie täuschten sich darin –, das sehr eigenartig war. Die schrägen Strahlen der Herbstsonne, die durch das Fenster hinter dem Wandschirm fielen, schienen ganz kurz vor ihm innezuhalten, so als weigerte sich das Licht, ihn zu berühren, ehe es neben ihm auf dem Fußboden eine hellgelbe Lache bildete. Das fiel beiden Männern auf, und Sir Hubert fröstelte ein wenig, denn er hatte dem Tod zu nahe und erst kürzlich ins Antlitz geblickt und wußte, was das zu bedeuten hatte.
    »Ich komme mit Kunde von Eurem Sohn, Sir Gilbert de Vilers. Er wird im Chateau in St. Médard-les-Rochers von Sieur d'Aigremont, Comte de St. Médard, gefangen

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