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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Goldgeglitzer um ihren Hals und die kleinen Öhrchen betonten ihre rosigen Wangen, die noch rosiger wurden, als alle sie anstarrten. Die sittsam gesenkten Augen, die den siegestrunkenen Blick verbargen, und der üppige Busen, der sich hob und senkte, weil sie unversehens in den Besitz des prächtigen und so lange begehrten Kleides gekommen war, all das trug bei den männlichen Betrachtern zu dem Eindruck bei, als glühte sie vor heimlicher Leidenschaft. Kein Zweifel: Ordentlich geschrubbt und gekleidet war das Mädchen eine überwältigende Schönheit.
    »Eindeutig eine poetische Inspiration«, verkündete Sir William. »Die Franzosen werden nie auf die Idee kommen, daß es sich nicht um Margaret de Vilers handelt.«
    »Es geht wirklich«, sagte Sir Hugo und schöpfte wieder Hoffnung. »Es muß gehen. Gilbert kann mich retten. Er hat Theologie studiert. Er weiß, was da zu tun ist. Wenn er meine furchtbare Not sieht, wird er mir sagen, wie ich erlöst werden kann. Er ist mein Bruder – Brüder müssen sich doch helfen, oder? Meine Seele! Kein Gold der Welt gibt mir meine Seele wieder. Die unverzeihliche Sünde – das Wahre Kreuz, Gott steh mir bei. Wenn ich doch nur gewußt hätte – nicht eine Nacht habe ich seit jenem furchtbaren Tag geschlafen. Es muß gehen, ehe ich vollends dahinschwinde und sterbe.«
    Das Mädchen tat so, als wäre sie taub wie ein Möbelstück, denn genau das war sie hier in aller Augen. Da sie nun die prächtigen Kleider hatte, warum ausgerechnet jetzt weiter auf ihrem Vorteil bestehen.
    »Pilgermäntel«, sagte Sir William. »Darin reist Ihr sicherer, wenn Ihr erst einmal das Hauptquartier des englischen Heeres in Bordeaux verlassen habt. Niemand darf argwöhnen, daß Ihr Lösegeld mit Euch führt. Das hat schon so manchen das Leben gekostet.«
    »Was auch immer ich anhabe, mir wird ein Stein vom Herzen fallen, wenn ich erst in der Fremde bin. Hier ersticke ich noch, eingesperrt mit dieser unfruchtbaren, jammernden, spindeldürren Frau.« Sir Hugo triefte jetzt vor Selbstmitleid, statt lediglich gequält dreinzuschauen.
    »Also gut«, sagte der alte Lord. »Abgemacht. Wir können unser Versprechen einlösen, das wir diesem Fray Wie-war-doch-noch-sein-Name gegeben haben. Binnen eines Monats erhält dieser französische Graf das Lösegeld für Gilbert aus der weißen Hand der schönen Margaret de Vilers.« Er schüttelte den Kopf. »Interessant, der Mann. Ziemlich abstoßend. Hübscher, kleiner Hengst, den er da ritt. Aber viel zu klein. Für Mönche und Damen geeignet, diese Zucht. Kein Pferd für einen Mann.« Dann wechselte er zu Französisch und wandte sich an seinen Sohn: »Denk daran, dort so schnell wie möglich aufzubrechen«, ermahnte er ihn. »Vergiß nicht, er hat es offensichtlich auf die Frau abgesehen. Sobald du Gilbert hast, bediene dich deiner List und verschwinde, solange der Franzose noch mit ihr beschäftigt ist.«
    »Selbstverständlich, Vater. Das versteht sich von selbst«, antwortete Hugo.
    »Mein Gott, wenn ich doch in dem prächtigen, französischen Chateau eine Fliege an der Wand sein und zusehen könnte, wenn du mit der Schlampe da ankommst«, sagte Sir Hubert und fing an zu husten, denn zum Lachen reichte seine Kraft noch nicht.

    Vermutlich gibt es Menschen, die zum Seefahrer geboren sind, und das ist auch gut so, denn wie würde der Rest sonst zurechtkommen? Damit meine ich, woher sollten wir zur Fastenzeit Heringe erhalten oder Waren aus fernen Ländern, wenn einige Menschen nicht so hirnverbrannt wären, statt an Land lieber auf den salzigen Meereswellen zu leben? Was mich angeht, also, wenn ich das Meer vor meinem Aufbruch gekannt hätte, ich wäre auf die Seereise ungefähr genauso erpicht gewesen wie Master Kendalls Geist. Doch jetzt war es natürlich zu spät.
    Bruder Malachi hatte uns eine Überfahrt auf einer Kogge verschafft, die Waren und die letzten Pilger dieses Jahres zum englischen Seneschall nach Bayonne brachte. Das Schiff jedoch, welches im Hafen so groß gewirkt hatte, schien auf dem offenen Meer um einiges zu schrumpfen und tanzte und hüpfte so besorgniserregend, daß ich die meiste Zeit der zweiwöchigen Reise an die Reling geklammert verbrachte und mein Essen von mir gab, ehe ich daraus Nutzen ziehen konnte. Und die ganze Zeit kletterten die Seeleute den Mast und die Wanten hinauf und hinunter wie Eichhörnchen und – ich traute meinen Ohren nicht – sangen dabei auch noch. Das meine ich mit einem geborenen Seefahrer.
    »Komm, komm,

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