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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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an.
    »Damen tragen Schmuck«, sagte sie.
    »In der Tat. Ja. So gehört es sich. Sie braucht ein paar Ringe. Schade, daß wir keine versilberten haben. Und unsere sind ihr zu groß.« Das männliche Trio musterte seine Hände. Selbst der Ring am kleinen Finger des alten Lords war noch zu groß für ihren Daumen. Außerdem war er ein Andenken. »Ja, Ringe, Hmm. Auch eine Kette, vor allem eine mit einem großen Kruzifix. Vielleicht noch einen Rosenkranz am Gürtel. Ein frommes Aussehen dient der dichterischen Inspiration. Du mußt dir angewöhnen, nicht so zu glotzen – und vergiß nicht, in männlicher Gesellschaft hast du den Blick zu senken.« Sir William musterte das Mädchen noch einmal.
    »Fang sofort damit an, sonst gehst du nie als Dame durch«, schnauzte sie Sir Hugo an, der mit rotgeränderten Augen angespannt auf der großen Truhe zu Füßen des Bettes hockte.
    »Ich weiß mich wie eine Dame zu benehmen. Ich habe es ihnen abgeguckt. Damen tragen glänzende Goldstickereien, keine häßlichen Sachen.« Sie zupfte an dem fehgefütterten Überkleid. Das heitere Himmelblau machte, daß ihre Gesichtsfarbe gewöhnlich und fahl wirkte. Wenn sie nach unten blickte, fiel ihr leichter, angeborener Silberblick kaum auf.
    »Etwas Dunkleres und Auffälligeres also«, sagte der alte Lord. »Hugo, sieh nach, was Lady Petronilla in ihrer Truhe hat. Und geh auch ihren Schmuck durch.«
    Das Mädchen rührte sich nicht. Doch über ihr Gesicht huschte der Anflug eines Lächelns, und in ihren Augen, die immer noch sittsam zu Boden geschlagen waren, blitzte Triumph auf.
    »Ihre Hände – sie darf die Handschuhe nicht ausziehen, bis sie zart geworden sind. Und paß auf, daß sie auf der Reise nicht den kleinsten Finger rührt. Sie muß einfach durchgehen«, ermahnte der alte Lord Sir Hugo, als dieser sich umdrehte und die Stiege hochgehen wollte.
    »Was ist mit ihrer Sprache?« fragte Sir William.
    »Nur keine Bange. Keiner von diesen Franzmännern spricht Englisch. Und selbst wenn, so können sie die Dialekte nicht auseinanderhalten.«
    »Sagt ihr, daß sie den Mund halten soll. Das wirkt ohnedies sittsamer.«
    »Fromm, sittsam, still und eine Dame – das alles bist du doch, Cis, äh?« Der alte Lord warf ihr einen lüsternen Blick zu.
    »Jetzt ja, Mylord«, sagte sie, blickte zu Boden und faltete die Hände wie zum Gebet.
    »Sehr gut. Ich habe doch gleich gesagt, sie eignet sich dazu. Braucht nur andere Kleider.«
    Von oben aus dem Söller kam Gekreisch. Hugo hatte auf dem Weg nach oben die Tür offengelassen.
    »Mein bestes Rotes dieser Schlampe, dieser Hure, dieser – dieser Waschfrau? Ich gehe auf der Stelle zu Vater, damit du es nur weißt. Dafür legt er dir den Kopf vor die Füße.«
    »Du gehst nirgendwohin, außer daß du deinen Schmuckkasten holst.«
    »Auf gar keinen Fall, hörst du!«
    »Du tust, was ich dir sage. Deinetwegen habe ich meine unsterbliche Seele verloren!«
    »Ist deine Rumhurerei etwa meine Schuld –«
    Man hörte einen furchtbaren Krach, gefolgt von Geschrei, Stöhnen und Schluchzen.
    »Du glaubst doch wohl nicht, daß dein liebwerter, fahrender Ritter jetzt auch noch einen Blick für dich übrig hat? Da, nimm den Spiegel und sieh dir an, was ich getan habe. Jetzt brauchst du kein Geschmeide mehr, um dieses häßliche Gesicht vorteilhaft zur Geltung zu bringen.« Der Schrei, welcher Sir Hugo auf der Treppe nachhallte, war furchtbar und schnitt ins Herz. Hugo tauchte mit mehreren Kleidern über dem Arm unten auf, in der Hand eine Schatulle.
    »Habe ihr die Nase gebrochen«, verkündete er.
    »Wurde auch Zeit«, sagte der alte Lord.
    »Ohrringe«, sagte das Mädchen. »Die kleinen, goldenen. Und den Ring mit dem Rubin.«
    »Zieh zuerst das Kleid an«, befahl Hugo.
    »Hier?« Dem Mädchen stieg eine heftige Röte ins Gesicht.
    »Für falsche Scham ist keine Zeit. Alle hier, außer Sir William, kennen jeden Zentimeter deines Leibes. Und damit hat er etwas verpaßt. Sie hat nämlich den süßesten kleinen Popo diesseits von London, na, Sir William?«
    Sir William, der gute Familienvater, betrachtete angestrengt seine Fingernägel und gab keine Antwort.
    Als sie die Schnüre des blauen Unterkleides mit dem güldenen Saum festgezogen und sich das leuchtend rote, bestickte Überkleid über die Schultern hatte gleiten lassen, sagte selbst der alte Lord: »Bei Gott!«
    Die leuchtenden Kleider brachten ihre goldblonde Schönheit vorteilhaft zur Geltung, und ihre Haut wirkte darin weißer als Schnee. Das

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