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Die Vision

Die Vision

Titel: Die Vision Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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hierhergeführt, daß Ihr sie Euch ansehen könnt. Bietet ihnen Eure Gastfreundschaft für einen längeren Aufenthalt an, und ich werde dem Mann das Geheimnis der Geheimnisse entreißen – wenn nicht mit List, dann mit Gewalt.«
    »Tut, was immer erforderlich ist.« Der Graf entließ ihn mit lässiger Geste. Und Fray Joaquins schwarzer Umhang wehte wie ein großer Schatten hinter ihm her, als er in dem langen Gang verschwand, der zu den Geheimkammern führte, während der Graf de St. Médard die Pilgerschar mit einem frommen Zitat begrüßte.

    »Das nenne ich mir einen gastfreundlichen Herrn, lieber Malachi«, sagte Mutter Hilde, nahm den breiten, feucht und schlapp herunterhängenden Pilgerhut ab und legte ihren Stab und das Bündel ans Fußende eines der Betten inmitten des langen, gewölbten ›Pilgersaals‹, der auf den Innenhof der Burg ging. Tagelang hatten wir nun schon an rauschenden Flüßchen entlang die Ausläufer der Berge im herbstlichen Kleid und dann die grauen, verhangenen Gebirgshöhen erklommen. Gestern hatten wir die ausgedehnten Apfelgärten des Hochtals von St. Médard-en-bas rauhreifbedeckt hinter uns gelassen, und als wir dann die steilen, gewundenen Straßen von St. Médard-en-haut erreichten, war aus dem Nebel strömender Regen geworden, der uns bis aufs Hemd durchnäßte und unsere Gesichter zu Eis erstarren ließ.
    »Was habe ich dir gesagt, Blume meines Lebens? Mein alter Name wirkt in der Bruderschaft immer noch Wunder«, sagte Malachi und breitete mit selbstgefälliger Miene seine feuchten Sachen vor dem großen Feuer aus. »Theophilus von Rotterdam muß nicht in der erbärmlichen Dorfherberge zusammen mit hoi polloi nächtigen, Bruder Malachi jedoch hätte gar keine andere Wahl gehabt.«
    Rings um uns richteten sich die weniger vornehmen Mitreisenden aus der Gesellschaft des Abtes ein. Hinter einem schweren Wandschirm am Ende des Saales, der nur von einer niedrigen Holztür durchbrochen wurde, lag die Unterkunft für die weiblichen Pilger. Überall im Raum war der Geruch nach feuchter Wolle und das Gebrabbel der Reisenden, was ihm etwas Anheimelndes gab. Als ich mir das Wasser vom Umhang schüttelte, hatte ich schon wieder so ein Gefühl im Magen, als ob wir einen schrecklichen Fehler gemacht hätten. Noch nie hatte ich soviel Heimweh gehabt. Und Gregory konnte ich mir an einem solchen Ort auch nicht vorstellen. Vielleicht war er bereits fort. Vielleicht war er nie hiergewesen. Margaret, Margaret, du bist eine dumme, halsstarrige Frau, da siehst du, was du dir eingebrockt hast. Da stehst du nun halb erfroren und schwanger in einem der häßlichsten Räume der ganzen Christenheit, und deine Kinder und dein warmes Bett hast du verlassen, um Träumen und Phantastereien nachzujagen. Alle haben dir gesagt, du sollst nicht so störrisch sein, hättest du nur auf sie gehört.
    »Nein, wie höflich, wie huldvoll dieser fromme Seigneur d'Aigremont. Habt Ihr seine Ringe gesehen? Der macht uns beim Abschied vielleicht noch ein Geschenk.« Der geschwätzige Bruder Anselm ließ sein Bündel in die Ecke fallen. »Lieber als Geld wäre mir natürlich ein netter, trittsicherer Maulesel. Oh, wie konnten diese verräterischen, falschen Priester sich nur so davonmachen! Zweifellos waren sie im Bunde mit dem Teufel, denn der verrät den Trägern des gelben Rades, wie sie Gottes Gerechtigkeit entgehen können.«
    Mir war jedoch etwas Seltsames aufgefallen. Seit wir durch das riesige Eisenportal in das Chateau eingezogen waren, gab mein Brennendes Kreuz ununterbrochen ein feines, zorniges Summen von sich, gleichsam wie eine gefangene Wespe. Wenn ich die Hand darauf legte, hörte es auf, doch kaum nahm ich die Hand fort, ging es schon wieder los. Im großen Audienzsaal befürchtete ich schon, jemand würde es bemerken, doch zum Glück fiel es bei dem Lärm des ständigen Kommens und Gehens nicht auf. Aber jetzt, in der Stille unseres Raumes, war es besser zu hören als zuvor, und ich spürte, wie es auf meiner Brust, wo ich es unter meinem Überkleid barg, bebte, als wäre es lebendig.
    Die Räume, eigentlich ein langer, steinerner Raum, den man mittels eines mächtigen, geschnitzten, hölzernen Wandschirms, der bis zur Decke reichte, unterteilt hatte, waren durch mehrere Gänge ohne Türen für jedermann zugänglich. Sie glichen eher Fluren, wenn man von den Bettstellen mit den einfachen Pelzdecken und den Kohlebecken absah, die zum Wärmen aufgestellt waren. Von den Türbögen her zog es kalt und traf

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